«One Chance» – im Kino mit Maya Wirz

Susan Boyle, Paul Potts, Maya Wirz. Die Geschichten der drei Casting-Show-Sänger ähneln sich. Die von Paul Potts ist jetzt verfilmt worden. Die «singende Busfahrerin» Maya Wirz hat den Film gesehen und verrät, wie es bei ihr weitergeht. Maya Wirz fährt den Bus 81 der Autobus AG von Basel nach Reigoldswil. Die Unterhaltungsindustrie verkauft gerne Märchen […]

Susan Boyle, Paul Potts, Maya Wirz. Die Geschichten der drei Casting-Show-Sänger ähneln sich. Die von Paul Potts ist jetzt verfilmt worden. Die «singende Busfahrerin» Maya Wirz hat den Film gesehen und verrät, wie es bei ihr weitergeht.

Maya Wirz fährt den Bus 81 der Autobus AG von Basel nach Reigoldswil.

Maya Wirz fährt den Bus 81 der Autobus AG von Basel nach Reigoldswil.

Die Unterhaltungsindustrie verkauft gerne Märchen solcher Art: Ein Arbeiterkind schafft den Aufstieg in den Kreis der Gutverdienenden. Dazu gehört auch das Märchen, dass eine grossartige Stimme sich über Nacht ins Rampenlicht des Musikgeschäfts singen könne – ohne Schulung. Das Publikum kauft die Geschichten über solche Märchenprinzessinnen und liebt sie – bis die nächste kommt, und ihren Kampf als Erfolg verkauft.

Susan Boyle, Paul Potts, Maya Wirz …

Die Geschichten von Susan Boyle, dem Kind aus der neunköpfigen schottischen Arbeiterfamilie, von Handy-Verkäufer Paul Potts aus dem walisischen Port Talbot und von Busfahrerin Maya Wirz aus Binningen in Baselland ähneln sich: Die singenden Märchenprinzen und -prinzessinnen verbindet ihre TV-Dramaturgie. Sie werden durch die Tele-Menagerie ins Rampenlicht gezerrt, wo sie die Herzen der TV-Millionen erobern. Bis zur Ankündigung der nächsten Zirkusnummer lässt man sie tanzen, bis die Kunst zur Nebensache wird.

Simon Phillip Cowell, der Dieter Bohlen von Grossbritannien.

Simon Phillip Cowell, der Dieter Bohlen von Grossbritannien.

Dahinter stecken Dompteure wie Simon Phillip Cowell, der am Schluss auch in «One Chance» mit Original-Zwischenschnitten zu sehen ist. Er gibt in der TV-Talent-Industrie den Ton an und hat letzlich mit Musik weniger am Hut als mit dem Geschäft: Er juriert und produziert TV-Shows wie «Pop Idol», «The X Factor», «Britain’s Got Talent» und «American Idol» und gehört zu den einflussreichsten Musikindustriellen der Welt. Wer wie er den Laden kennt, braucht für den Spot nicht zu sorgen. Seine Produkte bringen ihm Millionen ein. Als «Dieter Bohlen im Grossformat» rückt er hinter den Kulissen die Märchenprinzen ins rechte Licht. Wenn das mediale Geblitze erlischt, sind die Beteiligten für fünfzehn Minuten berühmt gewesen – und wir wissen bald nicht mehr, wofür.

Maya Wirz ist in der ersten Schweizer Entsprechung zu «Britain’s Got Talent» als Siegerin von «Die grössten Schweizer Talente» schweizweit berühmt geworden. Für viele gilt sie heute als «die singende Busfahrerin». Darunter leidet sie nicht. Sie ist es mit Stolz. Aber ihr wäre es lieber, man hörte auch ihre Stimme gern. Wie sie weiter an Liedern feilt, ihre Stimme schult, eine CD vorbereitet, und wie sie als Zuschauerin den Film «One Chance» erlebt hat, verrät sie im Gespräch. 

Frau Wirz, wie lange waren Sie nicht mehr im Kino?

Seit…moment mal. Als es noch sechs Franken gekostet hat. 

Also etwa vor zwanzig Jahren?

Ungefähr.

Sie haben jetzt eben «One Chance» gesehen. Haben Sie geweint?

Ja.

An welcher Stelle?

Als Paul Potts bei Pavarotti vorsingt und versagt. Ich kenne dieses Verlangen, die Stimme zum Klingen zu bringen. Und die Angst, dass es nicht gelingt. Die kehrt bei jedem Vorsingen wieder.

Warum ist «One Chance» kein Kitsch?

Er ist Kitsch. Aber er ist glaubwürdig präsentiert.

Paul Potts Eltern fordern ihren Sohn mit dem britische Bewusstsein der «Working Class»: Erst finde du mal einen Job. Singen kannst du in der Freizeit. «One Chance» schildert, ähnlich wie «Billy Elliot», das kulturelle Beharren der Arbeiterklasse. Wie war das bei Ihnen?

Mein Vater ging ab und zu ins Theater. Meine Mutter liebte Schlager. Dann hat meine Tante mich mit genommen ins Theater in Basel: Nach der «Gräfin Mariza» von Emmerich Kálmán war für mich klar: Ich will singen. Da kam ein Duft von der Bühne, der mich nie mehr losgelassen hat. Meine Eltern konnten mir aber keine Ausbildung als Sängerin finanzieren: Erst musste ich eine Berufslehre machen – als Schallplattenverkäuferin.

Als es Schallplatten noch gab …

CDs gabs auch … bei Lothar Löffler.

Als es Lothar Löffler noch gab …

Paul Potts ist sogar im Stahlwerk gelandet, weil sein Vater das so wollte. Ich habe später mit meinem Vater eine Abmachung getroffen: Wenn ich für ihn die Personentransporte fahren würde, würde er mir Gesangsstunden finanzieren. So konnte ich immerhin meine Stimme bilden, am Opernstudio in Basel. Ich habe zwar am Konservatorium Luzern das Konzertreife-Diplom gemacht, aber nicht Musik studiert.

Paul Potts erhielt im Chor bereits als Kind Aufmerksamkeit.

Ich wurde in der Schule gehänselt, weil ich nicht Pink Floyd hörte, sondern Renata Tebaldi. Ich war immer die Aussenseiterin, «die dicke Maya». Nur wurde ich nicht – wie im Film – verprügelt.

Paul Potts entwickelt daraus ja eine Art trotzige Beharrlichkeit.

Mein Traum bewegte auch mich in der Kindheit – umso mehr. Als ich später erste kleine Rollen singen konnte, hatte ich nicht jene Ausbildung im Rücken, die es braucht. Ich hatte nur meine Stimme.

Sie haben auch bei Theatern vorgesungen?

Ja. Das ist nicht wie im Film. Die Operettengesellschaften Wil, Sempach, Vaduz rufen nicht einfach an und fragen, ob man mitmachen will. Da steht man dann wie nackt vor dem Gremium. Aber irgendwann gab ich auf. Da verstehe ich die Situationen von Potts im Film sehr gut.

Wollten Sie vor dem TV-Auftritt auch wegrennen wie der Kandidat im Film?

Dafür war ich schon zu müde. Ich musste zehn Stunden warten.

«One Chance» hat das alles hübsch zusammengefasst. Was hat Sie am Film bewegt?  

Es steckt ein starker Wunsch nach Glück darin. Wenn der erfüllt wird, ist das immer etwas kitschig. Die Arbeit an einer Stimme ist auch immer die Suche nach Glück. Ich konnte auch viel mit mir verbinden: Ich habe als Kind gesungen. Ich suche noch heute nach meiner Echtheit. Paul Potts hat mit seiner Echtheit berührt.

Eine Stimme entsteht aber nicht über Nacht.

Im Gegenteil. Eine Stimme muss lange gebildet werden. Das hat «One Chance» nur nebenbei gezeigt. Neben all den schrecklichen Rückschlägen hat Paul Potts auch immer weiter an der Stimme gearbeitet. Ich hatte zwischenzeitlich auch aufgehört zu singen – wie er. Acht Jahre lang kein Ton. Ein britischer Kollege, ein Busfahrer, hat mir dann von diesem «Britain’s Got Talent» erzählt. So wurde ich auf Potts und Boyle aufmerksam. Ich hätte heulen können. Dann entschied ich mich, es bei der Schweizer Version zu versuchen.

Sie haben gewonnen und grosse Aufmerksamkeit erhalten. Wie konnten Sie die nutzen?

Ich bekam einen Vertrag. Für den Fall des Gewinns ist man zur Produktion einer CD verpflichtet. Für die Produzenten der Show. Das stand vom ersten Tag an fest.

In einer der stärksten Szenen «One Chance» singt Potts als trauriger Clown eine Arie. Sind Sie sich manchmal auch so vorgekommen?

Ich war ein totales Greenhorn. Ich hatte keinen Schimmer, wie das funktioniert. Ich war ganz schön überfordert. Plötzlich gab es eine Maya Wirz in der Öffentlichkeit, die nicht ich war, die ich so nicht sein wollte. Ich empfand mich eher als schwimmend. Jetzt versuche ich das besser zu machen: Ich arbeite jetzt an etwas Eigenem. Ich suche eher den Spagat zwischen Klassik und Unterhaltung.

Das werden Lieder Ihrer Wahl sein und auch Eigenproduktionen.

Ich bin gespannt, wie das wird. Die Musikindustrie ist im Vergleich zum angelsächsischen Raum in der Schweiz klein. Der Klassiksektor ist geradezu winzig. Ich war unter den Schweizer Klassikverkäufen eine Zeitlang die Nummer eins. Das heisst, im Gesamtmarkt ein Nobody. Hitparade Platz 15. Das ist super für Klassik. Aber reicht nicht für den grossen Markt. Engländer können ihre Musik als Exportprodukt auf einem gewaltigen Markt verkaufen. Im Markt gilt aber überall: Musiker sind so gut wie der Verkauf ihrer Tonträger. Nicht so gut wie ihre Musik. Qualität ist zweitrangig.

Trotzdem kennt man Sie – aber nicht in den erlauchten Kreisen …

Viele einfache Leute kennen mich. Man spricht mich heute noch an. Ich bin auch heute noch eine von ihnen.  

Wonach fragt man Sie im Bus 81 der Autobus AG häufiger: nach einem Autogramm oder nach einem Lied?

Zum Glück nach einem Lied.

Singen Sie dann?

Nein! Im Bus singe ich nur, wenn ich ganz allein bin. Tosca. Ich liebe Verdi.

Das heisst, wer Sie heute singen hören will, muss sich im 81er in den hinteren Reihen unter den Sitzen verstecken und warten, bis Sie irgendwo Richtung Reigoldswil Ihre Übungen machen?

Im Spätsommer ist dann hoffentlich die CD fertig. Ich verbringe damit gerade die spannendste Zeit meines Lebens.

 

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