Onlinemedien, vergesst mal das Tempo!

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Geschwindigkeit die grösste Stärke von Onlinemedien sei. Anstatt mit twitternden Schildkröten zu kämpfen, sollten Journalisten die wahren Qualitäten des Netzes nutzen. Ein Grund, warum der Journalismus im Netz noch lange nicht so gut ist, wie er sein könnte, ist der, dass er noch immer auf einigen fatalen Grundannahmen […]

Das Dossier «Reading The Riots» des Guardian

Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Geschwindigkeit die grösste Stärke von Onlinemedien sei. Anstatt mit twitternden Schildkröten zu kämpfen, sollten Journalisten die wahren Qualitäten des Netzes nutzen.

Ein Grund, warum der Journalismus im Netz noch lange nicht so gut ist, wie er sein könnte, ist der, dass er noch immer auf einigen fatalen Grundannahmen beruht. Die Fehlannahme, dass man den Erfolg von Journalismus im Netz in Page Impressions messen können, habe ich bereits abgehandelt und gewissermassen zum sarkastischen Namensgeber dieses Blogs gemacht.

Eine zweite fatale Fehlannahme ist die, dass die grösste Stärke des Journalismus im Netz die Geschwindigkeit sei. Natürlich kann man Neuigkeiten online schneller verbreiten als in einer Zeitung, die erst gedruckt werden muss, oder als im Fernsehen, wo die Nachrichten immer zu einer bestimmten Zeit ausgestrahlt werden. Journalismus im Netz bedeutet aber auch, dass man punkto Geschwindigkeit an den Allerschnellsten innerhalb desselben Mediums gemessen wird.

Das Problem mit den twitternden Schildkröten

Und da wiederum haben Journalisten ein Problem. Das Hase-Schildkröten-Problem. Der Journalist kann den News noch so schnell nachhoppeln, irgendeine Schildkröte ist immer schon da und hat es getwittert. Das ist eine einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung: Es gibt mehr Menschen mit mobilem Zugang zum Internet als Journalisten. Also ist die Wahrscheinlichkeit immer grösser, dass irgendjemand am Ort des Geschehens steht, als dass ein Journalist da steht.

Geschwindigkeit ist immer relativ dazu, mit wem man sich misst. Ein jeder Journalist mit etwas Berufsstolz wird beim Vergleich mit einem x-beliebigen Twitterer empört einwerfen, dass man das wohl nicht vergleichen könne. Eine News dahertwittern, weil man zufälligerweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, ist keine grosse Leistung. Journalisten erbringen ihre Leistung, indem sie News einordnen.

Genau so ist es. Man braucht nun aber nur einen Schritt weiterzudenken. Dann wird man realisieren, dass das Ausformulieren einer News über vier Abschnitte ebenfalls eine sehr dürftige Einordnungsleistung ist und Geschwindigkeit daher nicht das sein kann, wodurch sich der Journalismus im Netz von anderen Medienformen abhebt und womit ein Onlinemedium sich gegenüber der Konkurrenz profilieren kann.

Das grosse Bild zeichnen

Die wahre Stärke des Journalismus im Netz besteht darin, dass er Themen beliebig umfassend darstellen und über Zeit verfolgen kann. Da, wo Journalismus nicht auf der Mikroebene Antworten liefert auf die Frage, was gerade geschieht. Sondern das grosse Bild liefert auf die Frage, worum es eigentlich geht und was das alles bedeutet.

Es ist erfreulich zu sehen, dass immer mehr Medien im Netz Dossiers pflegen, in denen sie grosse Themen aufwändig bearbeiten. Hier kann der Journalismus im Netz all seine Stärken ausspielen, um ein informatives und attraktives Gesamtbild zu zeichnen: Multimedialität, Interaktion, Kollaboration, Verlinkung externer Quellen und vieles mehr – alles ohne Platzbeschränkung, alles bei Bedarf aktualisierbar.

Ein hervorragendes aktuelles Beispiel, das mich angeregt hat, diesen Text zu schreiben, findet sich im Guardian. Man hat sich viel Zeit genommen (und externe Fachkräfte beigezogen), um den Ursachen für die Unruhen in diesem Sommer in verschiedenen Städten Grossbritanniens auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist «Reading the riots», ein herausragendes Stück Journalismus, das so nur online erscheinen konnte.

Andere gute Beispiele:

Und auch wir geben uns Mühe:

Nächster Artikel