Lochs und Hochmoore, das also sind die schottischen Highlands. Und wenn der erste Ort, wo man rastet, Loch Ossian heisst, ist der Tag ohnehin schon denkwürdig.
Wie bin ich gestern gerannt, um den Caledonian-Express in der Corrour Station zu erreichen! Voller Angst, ich müsste oben in dieser Menschenleere sechs Stunden ausharren. Hätt’ ich ihn verpasst, den Zug, dann wäre ich gegen Viertel vor vier an einen einsamen Bahnhof in völliger Abgeschiedenheit geraten, ein keck hohes Giebelhaus, neu und in frischem Weiss. Zwar wäre niemand dort gewesen, aber der berauschende Anblick in dieser Moorlandschaft hätte mich für das Warten auf den Abendzug längst entschädigt.
Und so habe ich die Stille dieser Corrour-Station erst heute morgen erleben können. Ich war der einzige Passagier, der – von Fort William herkommend – ausgestiegen ist. Kein Mensch weit und breit. Drei Pfade stehen zur Wahl, ich entschied mich für jenen zum Loch Ossian. Eine Meile nur, eine Meile durch eine einzigartige, schlichte und atemberaubend schöne Landschaft. Ein kräftiger Ort und nach einer Wegbiegung liegt vor der See vor mir …
… und das Loch Ossian: Die Wasserfläche hat sich zwischen sanft abfallenden Bergen hingelegt, sie lässt offen, wie weit sie sich hinter einem Tannenwald zu den verschneiten Riesen hin erstreckt, ringsum wachsen Fichten und Föhren – anders als bei den meisten Lochs auf dieser Höhe, die sich mit kahlen Ufern schmücken. Kleine Inselchen ragen heraus, bewaldet auch sie, dunkle Tannen, zartgrüne Lärchen. Ein Blockhaus am Anfang des Sees, rot gestrichen – wer hat die Gnade, an diesem mystischen Ort Stunden und Tage unter einem Dach zu verbringen. Die Sonne spielt mit dem Bild, wer dichten kann, dem werden die Verse sprudeln.
Ossian’sche Weisheiten
Plötzlich bemerkte ich, dass Leute aus dem Haus heraustraten und wieder hineingingen. Ich näherte mich dem Haus, entdeckte, dass es eine Jugendherberge war und klopfte an. Ein junges Paar bat mich herein. Es sei schon lange niemand mehr vorbeigekommen, sagte der Mann. Ob ich bleiben wolle? Nun, es war erst Vormittag, ich wollte eigentlich weiterziehen, aber ich trank dann einen Tee, ass Keckse und wir schwatzten drauflos. Sie wüssten sehr wohl, was für ein besonderer Ort das sei, sagten sie. Deshalb arbeiteten sie hier. Was für eine Arbeit! Geschichten wachsen aus dem Moor, Fantasien, Legenden. Wir sprachen über Ossian. Der Wirtsherr holte zu einer längeren Erklärung aus über einen Dichter, der wilde Poems geschrieben habe, angeblich, aber sie seien gar nicht von ihm gewesen. Ich sagte, dass ich davon wüsste – unsere Stürmer und Dränger, eine ganze Dichtergeneration, hätten sich vor über zweihundert Jahren an ihm ereifert und ein junger Mann namens Werther habe sich im Liebeswahn nach seiner Charlotte in Ossians Gedichte geflüchtet, den Verstand verloren und sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Es war mir schon klar, dass diese eine unzulässige Verkürzung von Goethes Jugendwerk war, aber eigentlich wollte ich aus berufenem Mund erfahren, was Ossian denn bedeute.
Die Frau sagte, «Ossian» sei gälisch. Was es bedeute, wisse man nicht so recht. Wahrscheinlich: Biegung des Wassers – weil sich der See um einen Berg herum biege. Alle gälischen Ortsbezeichnungen hätten etwas mit der Landschaftsform zu tun.
Der Mann fragte mich dann, ob ich über Nacht bleiben wolle, was ich höflich ablehnte. Ich weiss nicht, ob die Stimmung deswegen etwas ungemütlicher, ja fast ruppig wurde. Wenn es mir hier nicht passe, sagte er, sei das mein Problem. Der Frau schien der Stimmungswechsel peinlich zu werden und sie fragte mich, wohin ich gehe. Ich sagte, nach Sizilien und auf dem Weg nach Mealt na Lice dachte ich mir: Vielleicht schaut er mir nach und denkt: Was für ein Aufschneider.
Kleine Kobolde
Der Pfad ging bergan, ich spürte einen Stich in der Ferse bei jedem Schritt: Hoffentlich keine Entzündung in der Achillessehne. «Peter´s Rock», hoch über dem See. Eine Messingtafel an einem meterhohen Fels: «IN MEMORY OF PETER J TROWELL, BORN SEPT 1949 – DIED MARCH 1979 AT LOCH OSSIAN. I HAD A FRIEND A SONG AND A GLAS FAIILY ALONG LIFES ROADI PASS JOYS AND FREE OUT OF DOORS FOR ME OVER THE HILLS IN THE MORNING.»
Warum starb er? Wer war Peter? Das Moor tief, glänzend blau und schillernd, manchmal eine dünne Schicht schwarzer Erde auf stehendem Wasser. Spiegelungen, Irrlichter, keine Schafe hier, nur immer wieder diese meterhohen Steine dem Weg entlang, im Moor, mit dunkelgrünen Mooshüten. Der Nieselregen bewegte sie, kleine Kobolde, die sich in die Büsche und Heidensträucher ducken und verstohlen unter ihren Kappen hervorgucken. Wäre gern mit Beni hier durchgegangen, einem Schulfreund, dem hier unzählige Geschichten in den Sinn gekommen wären, Gespenstergeschichten, Koboldgeschichten, ossianische Verse. Er hat sich vor mehr als zwanzig Jahren umgebracht, kam nicht zurecht mit der geordneten Welt und hätte einen Stein wie Peter J Trowell verdient.
Weder rutschte noch stolperte ich, doch unversehens fiel ich um – hat Beni gestossen?
Einen Wanderer traf ich noch, einen Schotten, rüstig, etwa sechzig und mit ordentlichem Rucksack. Unvermittelt stand er vor mir, als ich schon drei Stunden unterwegs war. Zum Loch Ossian wolle er, dann nach Fort William, dann weiter. Wohin denn? Ach, das wisse er nicht, er habe alle Zeit der Welt.
Wirklich sehr gemütlich
Dann das Moor of Rannoch. Auf der Karte war da ein Hotel angezeigt, das Hotel Rannoch. Kein Mensch da, kein Licht. Eine grosse Ruhe. Die Tür zum Haus ist offen, die Bar leer. Immerhin, das Schild über der Theke beleuchtet, der Zapfhahn tropft, hinten im Dämmer erkenne ich eine Frau, eine kräftige Schottin. Sie lässt sich Zeit und füllt mir dann ein Pint.
Ein Zimmer? Eine zweite Frau kommt aus dem Dunkel. Sie führt mich, trotz schmutziger Schuhe, über dicken Teppich, durch eine Essstube, eine mit Polstern und Büchern möblierte Bibliothek, eine teppichbelegte Treppe ins Zimmer Nummer 2. Die Wände aus Baumrinden, ein Sekretär, ein tannener Schrank. Room with bath! Holzfällerbetten, in schrägem Winkel gegeneinander gestellt. Das Zimmer voller Bücher, «Wuthering Heights», «The Untold Story». Ein Lehnstuhl.
Überall im Haus stehen Antiquitäten, Fischruten, Truhen, Kommoden, Körbe. Ein hölzernes Bein hängt an einer Decke, ein schwerer Bergschuh daran – der Wirt hat Sinn für Überraschungen. In einer Nische geschnitzte Elefanten. Das Essen ist ausserordentlich fein, Fish Pie, mit Blätterteig überdeckt. Kein Firlefanz. Die Gaststube mit Mosaiken aus hingehämmerten Weinkorken verziert, auf Kopfhöhe ringsum Weingestelle, gefüllt mit leeren Flaschen, jede mit einem Etikett behängt, auf welchem der Charakter des genossenen Weins beschrieben ist. Manchmal mit dem Datum des Trankes. Vom Wirt notiert, er trägt seine schütteren, grauen Haare halblang, Pagenschnitt, trimmt alles auf Gemütlichkeit.
Konversation im Wohnwagen
Zwei Schotten aus Glasgow haben sich an die Bar gesetzt. Sie kommen Wochenend für Wochenend zum Fischen hierher und wohnen jenseits des Bahngeleises in einem grünen Wohnwagen, wo sie jeweils die schottische Flagge hissen. Brian und Edi laden mich in den Wohnwagen ein. Sie wollen Konversation führen, aber das Gespräch harzt. Soviele Pints! Soviele Whiskys schon. «Aha, aus der Schweiz: Käse, Schokolade und alle bringen ihr Geld in die Schweiz. Ha! Und wir tragen Röcke, Kilts. Schau mich an, trage ich einen Kilt?»
Edi prustet los, will Brian umarmen, aus irgendeiner plötzlichen Eingebung. Er greift daneben, schwankt, da war irgendwann ein Whisky zuviel. Er fasst nach und schafft die Umarmung. Dann sagt Edi: «Dort, das Bild an der Wand. Das ist Brian, neben ihm seine Frau. Schau den Fisch, den sie hält: Zehn Pounds – was habt ihr in der Schweiz? Kilos? Wieviel Kilos sind zehn Pounds. A nice fish – a nees fesch.» Es ist schwierig, Edi zu verstehen. «Und dann noch etwas. Wir haben den Fisch fast nicht tot gekriegt. Hab zu meiner Frau gesagt: Kill den … flucht ihr auch in der Schweiz? Wir schon. Wir sagen: fuck, fucking – ich sage also zur Frau, kill den fucking fish, schlag ihn fucking tot, hau zu.» Ich frage: «Wer ist die dritte Frau auf dem Bild?» Edi sagt: «Yes, eine dritte Frau. Sie hat ein zwei Monate altes Baby. Ich hab ihr ein Pfund gegeben. Das macht man so in Schottland. Wenn jemand ein Kind erhält, schenkt man Geld.»
Und jetzt noch zu den Zügen
Zurück an der Theke des Hotels hält mir die Serviertochter ein Pint hin. Sie sagt: «Jetzt musst du hinüber zur Station. Zu unserer Station, der Rannoch-Station. Es kommen zwei Züge. Wir haben nämlich Züge hier. Wir haben recht viele Züge. Es ist nicht sooo schlecht mit den Verbindungen in Rannoch Station. Drei in jeder Richtung jeden Tag, und dazu kommen Güterzüge. Nicht sooo schlecht! Und dann noch den Caledonian Sleeping Express. Du kannst hier um neun Uhr einsteigen und bist um zehn vor acht in London.»
Auf der Passerelle über den Geleisen ist es sehr still, sehr ruhig. Nur Vögel, weit hinten ein See, dunkle Abendfarben, die Wolken spielen mit Grau, Weiss, Dunkel, die Sonne spielt mit, färbt ein. Weite, weite Landschaft, alles verliert sich in den Hügeln. Vier Touristen kommen plötzlich aus der Bar, vorher habe ich die nicht gesehen. Sie stellen die Säcke auf den Bahnsteig.
In der Stille ein Rattern, der gelbblaue Zug von Glasgow kommt. Er wird noch bis Fort William fahren. Zwei Wagen, er hält. Die vier Touristen steigen ein. Niemand steigt aus, ausser dem Lockführer. Er verschwindet im Bahnhäuschen. Kaum ist er verschwunden, schleicht vom Loch Ossian her der Caledonian-Express herab – eine grosse Diesellok zieht vier Wagen, zwei davon Schlafwagen. Er hält und der Lokführer steigt aus, geht hinüber, steigt in die Lokomotive des kleinen Zugs.
Eine lange Ruhe, nur der Dieselmotor dröhnt, stinkt und tuckert. Der kleine Zug fährt los. Aus dem Bahnhäuschen schlendert der Lokführer, der den kleinen Zug mit den gelbblauen Wagen von Glasgow hergeführt hat. Er trägt eine Jacke über dem Arm, einen Kaffeebecher in der Hand. Er steigt in die Lok des Caledonian-Express, schüttet Zucker in den Kaffee, dann Milch. Blick zurück, er rührt lange im Kaffee und fährt los. Kaum Passagiere in den Schlafwagen. Morgen um zehn vor acht werden sie in London sein.