Papst Franziskus hat nach einem Jahr im Amt eine erste Bilanz gezogen. Dabei sieht er die römisch-katholische Kirche im Missbrauchsskandal ungerechtfertigt stark kritisiert. Und er wehrt sich gegen eine Verherrlichung seiner Person.
Es sei beleidigend, den Papst als «eine Art Superman» darzustellen, sagte der 77-Jährige im Gespräch mit der italienischen Zeitung «Corriere della Sera» und der argentinischen Zeitung «La Nación» vom Mittwoch.
«Der Papst ist ein Mann, der lacht, weint, ruhig schläft und wie alle Menschen Freunde hat. Ein normaler Mensch», sagte Jorge Mario Bergoglio, der seit 13. März 2013 Papst Franziskus heisst. Ihm missfalle «ein gewisser Papst-Franziskus-Mythos»: «Wenn man zum Beispiel sagt, er geht nachts aus dem Vatikan, um den Obdachlosen Essen zu bringen. Das ist mir nie in den Sinn gekommen.»
Treffen mit Ratzinger
Seinen Vorgänger Benedikt XVI. habe er schon einige Male um Rat gefragt. «Der emeritierte Papst ist keine Statue im Museum. Er ist eine Institution», erklärte der Argentinier. «Seine Weisheit ist ein Geschenk Gottes», sagte er über Joseph Ratzinger. «Er ist diskret, demütig, will nicht stören.»
Gemeinsam mit ihm habe er entschieden, dass es besser sei, wenn Benedikt herausgehe und am Leben der Kirche teilnehme. Ratzinger war vor knapp zwei Wochen beim Konsistorium erstmals wieder öffentlich aufgetreten.
Es gefalle ihm, bei den Menschen zu sein, er habe die Gewohnheit, mit ihnen zu telefonieren, sagte der Pontifex. «Natürlich ist das jetzt nicht mehr so leicht, weil mir jetzt so viele Leute schreiben.» Besonders habe ihn der Kontakt zu einer 80 Jahre alten Witwe berührt, die ihren Sohn verloren habe. «Sie schrieb mir. Und jetzt rufe ich sie einmal im Monat an. Sie ist glücklich. Ich mache den Pfarrer.»
Ungerechtfertigte Angriffe
Auch zu den Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche äusserte sich der Papst und wies dabei Vorwürfe zurück. Die Statistiken über Gewalt gegen Kinder bezeugten, dass sich die grosse Mehrheit dieser Missbrauchsfälle im Familien- oder Nachbarkreis ereignet.
Die römisch-katholische Kirche sei vielleicht die «einzige öffentliche Institution, die sich mit Transparenz und Verantwortungsbewusstsein» bewegt habe. Niemand sonst habe mehr getan. Und doch sei die Kirche die einzige, die angegriffen werde, sagte Franziskus.
Sein Vorgänger Benedikt sei sehr mutig gewesen und habe einen guten Weg eingeschlagen. «Die Missbrauchsfälle sind furchtbar, weil sie tiefe Wunden hinterlassen», sagte er.
Keine Revolution
Er sei nach seiner Wahl vor knapp einem Jahr nicht mit dem Ziel angetreten, die Kirche zu revolutionieren. «Als ich anfing zu regieren, versuchte ich, das in die Praxis umzusetzen, was in der Debatte der Kardinäle aufgetaucht war», erklärte der Papst.
Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche kündigte an, nicht vor dem Jahr 2016 sein Heimatland Argentinien zu besuchen, auch wenn er gerne seine kranke Schwester besuchen würde. «Jetzt muss ich ins Heilige Land, nach Asien, nach Afrika reisen.»
Im Bereich der Familie muss die Kirche nach den Worten von Bergoglio einen langen Weg zurücklegen «Die Familie macht eine sehr ernsthafte Krise durch», sagte er. «Es gibt viele getrennte Familien, deren Projekt eines gemeinsamen Lebens gescheitert ist. Die Kinder leiden sehr. Wir müssen eine Antwort geben.» Franziskus betonte, dass die Ehe zwischen Mann und Frau geschlossen werde. Bei den verschiedenen Formen des Zusammenlebens müsse man die einzelnen Fälle sehen und beurteilen.
Vor 60 Jahren verliebt gewesen
Auch zu privaten Dingen nahm der 77-Jährige im Gespräch Stellung. Im Alter von 17 Jahren habe er eine Freundin gehabt, sagte Bergoglio. «Im Priesterseminar hat mir ein Mädchen für eine Woche den Kopf verdreht.» Auf die Frage, wie die Geschichte ausgegangen sei, antwortet der Pontifex mit einem Lächeln: «Das waren Sachen unter jungen Leuten. Darüber spreche ich mit meinem Beichtvater.»