Ein Mann steht am Strassenrand und behauptet, er befinde sich an einer Bushaltestelle. Er überredet mich mitzufahren – aber es geht in die falsche Richtung. Die Wanderung dann durch früheres Partisanengebiet. Überall stosse ich auf Gedenksteine.
Es wollte gar nicht richtig Vormittag werden, aber das lag an den hohen Bergen. Die Sonne versteckte sich dahinter, den Hang gegenüber beleuchtete sie schon ordentlich, aber auf meinem Pfad den Hügel hinan blieb es kühl, fast herbstlich kühl. Auf dem mächtigen Gebirgszug gegenüber sah ich immer wieder Montefiorino trohnen. Endlich dann die Höhe, eine Art Pass, der mich auf die andere Seite der Hügelkette und ins Morgenlicht führte.
Ich erreichte eine Autostrasse, folgte ihr ein rechtes Stück, bis ich einen Mann am Strassenrand stehen sah. Ich sprach ihn an. Es war ein Bauer, frisch rasiert und mit herbem Eau de Cologne. Da, wo er stehe, sei die Bus-Haltestelle, sagte er, aber ich sah nichts. Man müsse das halt eben wissen, sagte er und forderte mich auf, doch auch mitzufahren. Wahrscheinlich sei ohnehin kein Passagier drin. Er reise nach Pavullo nel Frignano, dem Hauptort dieses Gebietes. Er hatte sich für die Stadt zurecht gemacht, musste ein paar Besorgungen machen. Wir sprachen darüber, dass die Jungen halt nicht mehr auf dem Land wohnen wollten. Er bedauerte, dass alles verlottere und auch, dass es diese Bushaltestelle wohl bald nicht mehr geben werde. Kein Mensch wisse ja bald nicht mehr, dass dies eine sei. Das Wissen gehe eben verloren.
Zur Mitfahrt überredet
Dann kam der Bus. Kein Passagier drin. Ich weiss nicht warum, aber dieser Bauer überredete mich mitzufahren. Wir sassen beide auf dem vordersten Sitz und er begann mit dem Chauffeur zu reden. Über das Wetter, wie halt überall auf der Welt. Dann hielt der Bus wieder an einer Haltestelle, die als solche nicht erkennbar war, eine Frau stieg ein, setzte sich neben uns. Und immer neue imaginäre Haltestellen folgten, immer neue Passagiere stiegen ein. Alle kannten sich: Behäbige, Listige, Grollende, die mit verwerkten Fingern ihre Tickets in den Automaten schoben.
Kleine Gespräche im Bus zwischen alten Bekannten, zufällig ins selbe Fahrzeug gefunden, eine derbe Bäuerin blieb grad vorn beim Chauffeur stehen und redete während all der Kurven auf ihn ein wegen eines Hausverkaufs. Eine schüchterne, bescheidene Frau wollte mitten in der Landschaft aussteigen und der Chauffeur fragte, he, gehst du in die Pilze. Ja, sagte sie. Aber doch nicht mit diesen Schuhen. Nein, ich hab andere in der Tasche.
Wieder Carlino
Die meisten waren um die siebzig, Jahrgang 1920 bis 1930, überlegte ich, und dieser Carlino von Stuart Hood ging mir nicht aus dem Sinn. All diese Passagiere waren Jugendliche, als er durch diese Gegend zog, als schottischer Flüchtling aus einem Gefangenenlager entlassen worden war und die Partisanen im Süden suchte. Vielleicht sind sie ihm damals begegnet. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht – was haben sie wohl in jener Zeit getan?
Endstation Pavullo und überhaupt nicht dort, wo ich hinwollte. Da hat mich der alte Bauer zu einem ziemlichen Umweg überredet. Aber immerhin: Ich hatte nun ein schönes Stück Weg vor mir, immer aufwärts durch ein mächtiges Tal nach Abetone, diesem Wintersportort, wo Skis und Snowboards zu mieten wären, wo die Bars aussehen wie in billigen Alpen-Wintersportorten.
Gedenksteine am Wegrand
Ich zog auf der Strasse Richtung Pistoia los, suchte Abkürzungen, Nebenwege, streifte durch unglaublich schöne Wälder, heitere Buchenhaine, immer talwärts – und traf immer wieder auf Gedenksteine von gefallenen Partisanen. Partigiani – gefallen im Kampf gegen die Nazis, die meisten im Jahre 1944. Fotografien waren in die Steine eingelassen, Portraits von verwegen und trotzig blickenden Burschen zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren. Immer wieder, unerwartet am Wegrand diese Gedenksteine. Vielleicht haben einige Carlino gekannt oder kennengelernt.
Vor zwei Monaten, in St. Malo, in der Bretagne, bin ich diesen Memorials auch immer wieder begegnet. Durch ganz Europa hat der Krieg gewütet, sind junge Männer sinnlos umgekommen wegen des faschistischen Terrors. Es ist viel Zeit vergangen seither – aber viele dieser gefallenen Menschen könnten heute noch leben. Sie wären recht alt jetzt, im Alter der Buspassagiere von heute morgen. Sie hätten ein erfülltes oder ein trauriges Leben hinter sich. Sind aber einfach umgebracht worden – eines wahnwitzigen Plans wegen.
Stauwehre, Sägereien, Brücken, irgendwann die Brücke von La Lima. Dann wieder aufwärts, Strassenschilder, die nach Florenz wiesen (fünfundsiebzig, siebzig, achtundsechzig Kilometer). Ich merkte, dass ich wie in Trance gehe, war heute einfach drauflos marschiert, fast ohne Pause. San Marcello plötzlich nur noch ein Kirchturm weit hinter mir und vor mir das diesige Licht eines heranziehenden Gewitters.
Mittelalterfest
Gavinana rüstet zum Fest, zu einem Mittelalterfest. Die Kinder steckten bereits in den Kostümen, junge Männer sperren die Strassen ab, überdecken die Strassenschilder mit Jutetüchern, strecken Fackeln an die Wegränder. Polizisten stehen ratlos umher, Touristen, alles Italienerinnen und Italiener, versperren den Weg, haben sich auf die Steinbänke rund um die Kirche gesetzt, sitzen in den Bars. Die Wirte haben zusätzliches Personal angeheuert, geben Anweisungen. Gelangweilte hocken rum und trinken Bier.
Alle Hotels bis auf eine Pension weit oben im Dorf sind besetzt. Dort ist noch ein Zimmer frei, allerdings noch ohne Bettwäsche. Ich mache mich frisch, bekomme was zu essen, und der Speisesaal stimmt mich nachdenklich. Achtzigjährige noch und noch. Paare, die sich nichts mehr zu sagen haben oder vielleicht auch nie viel zu sagen hatten, aber zusammen alt wurden. Sich alles gesagt hatten. Nie die ganz grosse Rolle im Leben gespielt haben. Vielleicht Bus gefahren sind, Wege geteert haben, Checks ausgezahlt oder Einwohner verwaltet haben. Aber immerhin: Sie sitzen zu zweit an einem Tisch.
Einsam und alt
Da sitzt auch ein Dutzend alter Damen, die sich eine Woche Sommerfrische in Gavinana gönnen und nun einsam an den Tischen sitzen. Jede an einem separaten. Sie reden nicht miteinander. Sie wollen sich ihre Einsamkeit und ihre Trauer nicht eingestehen. Schwer hängen die Goldketten von ihren Armen. Sie blicken, eine neben der anderen, an die Wand, die eine böse, die andere trotzig, eine weitere beckmesserisch, eine gar verwegen und diese dort schelmisch. Alle die gleiche Flasche Chianti auf dem Tisch, die eine voller, die andere leer.
Alle um die achtzig – was haben sie getan, als Carlino vorbeizog. Oder: Vielleicht hatte die eine oder andere einen ragazzo, der jetzt verwegen und trotzig von einem dieser Gedenksteine blickt.
(Gavinana, 3. August 2002)