«Pelo Malo» – Armut im Überfluss

Es ist eine haarige Geschichte. Eigentlich dreht sich alles nur um die Frisur von Junior. Dabei ist Mariana Rondon ein grossartiges Sittenbild gelungen: Armut im Überfluss: Venezuela bietet viel Reichtum an Öl, Bildern und einen Vorgeschmack auf einen Sommer voller südamerikanischer Gefühle. Junior mag nicht mit dem Kraushaar seines Vaters leben. Für das Klassenfoto will […]

Es ist eine haarige Geschichte. Eigentlich dreht sich alles nur um die Frisur von Junior. Dabei ist Mariana Rondon ein grossartiges Sittenbild gelungen: Armut im Überfluss: Venezuela bietet viel Reichtum an Öl, Bildern und einen Vorgeschmack auf einen Sommer voller südamerikanischer Gefühle.

Junior mag nicht mit dem Kraushaar seines Vaters leben. Für das Klassenfoto will er es glätten. Aber dafür  braucht er das Geld seiner Mutter. Doch die hat keine Arbeit. Es beeindruckt sie auch nicht, wenn Junior sie anschreit: «Ich bin neun und habe hässliche Haare».

Juniors Mutter Marta ist eine Arbeiterin ohne Mann und Arbeit Um einen Job zu kriegen, lässt sie sich auch mal von einem Mann besuchen. Ohne Arbeit, ohne Mann, ohne Hilfe, und noch mit einem weiteren Kleinkind, sieht ihr Zusammenleben mit ihrem Sohn Junior aus wie die Fassade des Hauses, das Sie bewohnen: trostlos.

Armut im Überfluss

In der Hauptstadt eines der grössten Ölförderländer der Welt, Venezuela, liegt die Arbeitswelt brach. Die Grundlage, auf der die Moral hier bauen könnte, wäre der Reichtum. Doch der fliesst in die Hände von wenigen. Auf der Strasse liegt er nicht. Dorthin treibt es Marta: bald ist sie am Rande der Prostitution.

Wäre da nicht die erbarmungslose Poesie der Bilder, «Pelo Malo» wäre einer der vielen Coming of Age Filme, wie wir sie kennen: Leise, humorvoll, verspielt. Aber die Regisseurin Mariana Rondón kann mehr. Wenn Junior mit seiner Spielfreundin spielt «Ich sehe, was du nicht siehst», blicken sie auf die überladene Fassade des gegenüberliegenden Blocks und raten Details, die erst klar machen, wieviel Lebensgier noch in der Verwarlosung sichtbar wird. Es sind die Bilder einer Frau, die auch als Künstlerin international anerkannt ist: Sie kann uns zeigen, was grosses Kino kann: Sehen lehren.

Das Männerbild einer Frau

In einem handlungsarmen Film wird das Gesicht von Junior zur Projektionsfläche. Teils ist es der ungebrochene Optimismus von Junior. Teils ist es der unerschütterliche Überlebensinstinkt der Mutter, die dem Gesicht Kraft verleihen: Juniors Frisur steht für eine Geschichte, an der man sich nicht satt sehen kann: Erst will er seine Haare glätten. Dann tanzt er im Seiden-Sakko und einer Gel-Frisur. Dann verliebt er sich in das Mädchen mit den geraden Haaren. Dann will ihn die Mutter kahl rasieren. Die Frisur soll Junior beweisen, wieso sie ihn nicht lieben kann.

Marta versucht weiter, Arbeit zu finden. Immer heftiger konzentriert sie sich auf den den Job, den sie haben will, und jenen Mann, der ihn ihr vermitteln kann. Es ist einer der verzweifeltsten Augenblicke des Films, als sich Mutter und Sohn in die Augen schauen, während der Personalchef das Bewerbungsgespräch auf dem nackten Körper der Frau abhält. 

Der Realismo der Südamerikaner

Marta ist streng zu Junior: Sie glaubt, dass er sehen soll, wie Männer sein müssen. Sie glaubt, dass sie ihn so am besten davor schützen kann, in die Gosse abzurutschen. Junior soll lernen, ein richtiger Mann zu werden. Doch Junior mag nicht.

Er würde lieber singen. Er würde lieber tanzen. «Pelo Malo» setzt dort an, wo der Neorealismo einst den Aufbruch des italienischen Kinos innerhalb der Gesellschaft markierte: Gegen die Korruption. Gegen die Mafia. Mit dem Stolz der Arbeitenden auf ihre Moral. Mit der Kraft ihrer Phantasie. «Pelo Malo» fährt dort weiter, wo eine illusionslose Generation sich gezwungen sieht, über die Zukunft nachzudenken: Bei ihren Kindern.

 

Der Film läuft in den Kult-Kinos.

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