Der Mordprozess gegen den Paralympics-Star Oscar Pistorius hat einen Gefühlsausbruch ausgelöst: Der Südafrikaner schluchzte, weinte, hielt sich zeitweise die Ohren zu, als der erste Augenzeuge vom Tatort über die Tatnacht berichtete.
Ohne seine Beinprothesen habe der Angeklagte über der leblosen, blutenden Reeva Steenkamp gestanden und weinend gesagt: «Ich habe sie erschossen, ich dachte, sie sei ein Einbrecher, und ich habe sie erschossen», zitierte der Mediziner Johan Stipp am Donnerstag im Zeugenstand des Gerichts in Pretoria den Mordverdächtigen.
Der behinderte Profisportler Pistorius habe laut gebetet und Gott angefleht, seine Freundin möge nicht sterben. Der Arzt stellte aber fest, dass die blutende, damals 29-jährige Frau nicht mehr atmete und keinen Puls mehr hatte. Pistorius habe weinend gesagt, er würde sein Leben geben, wenn Reeva nur durchkäme.
Der Angeklagte verfolgte die Aussagen des Zeugen sichtlich aufgewühlt. Nach Sitzungsende umarmten der 27-Jährige und seine Schwester Aimee sich minutenlang – wohl auch in Erinnerung an ihre Mutter, die vor genau zwölf Jahren gestorben war. Pistorius trägt eine Tätowierung mit dem Datum ihres Todes auf seinem Körper.
«Er wollte, dass sie lebt»
Der Nachbar von Pistorius in der geschlossenen Wohnanlage in Pretoria hatte in der Nacht zum 14. Februar 2013 Schüsse gehört und danach Schreie. Stipp sprach von einer Frauenstimme, gab aber im Kreuzverhör des Verteidigers Barry Roux zu, nicht völlig sicher zu sein, wessen Stimme es war.
Aus ärztlichem und nachbarschaftlichem Pflichtgefühl habe er sich nach den Schüssen und den vage sichtbaren Vorgängen im Haus Pistorius angekleidet, sagte der Radiologe. Danach wandte er sich an den lokalen Sicherheitsdienst, fragte, ob er ohne Gefahr zum Haus von Pistorius könne und fuhr dann zum Tatort.
Dort fand er laut seiner Aussage vor dem Haus jemanden vor, der mit seinem Handy telefonierte, und eine Frau, die ihm die Tür öffnete. Im Eingang habe die blutende Steenkamp gelegen, neben ihr ein offenbar völlig verzweifelter Pistorius, der versucht habe, seine Freundin wiederzubeleben. «Er wollte, dass sie lebt (…) Er wirkte sehr ernsthaft auf mich, er hatte Tränen im Gesicht», sagte der Arzt.
Mord oder Irrtum?
Die Staatsanwaltschaft beschuldigt den behinderten Profisportler des Mordes. Der 27-Jährige sagt, er habe seine Freundin irrtümlich durch eine geschlossene Tür erschossen, weil einen Eindringling im Haus wähnte und in Panik gewesen sei.
In den ersten Tagen des Mordprozesses hatten Zeugen der Anklage die Darstellung des Sportidols infrage gestellt. Vor allem schilderten sie Schreie und Streit im Haus von Pistorius vor den tödlichen Schüssen in der Nacht zum Valentinstag 2013.
Insgesamt sollen in dem Prozess 107 Zeugen allein der Anklage gehört werden – Stipp war der siebte bisher. Etwa 300 Journalisten aus aller Welt verfolgen den Prozess, den mehrere Fernsehsendern live übertragen. Das spektakuläre Verfahren, das am Montag begann, wird vermutlich deutlich länger als die geplanten drei Wochen dauern.