Pi-pa-pokémon – der Hype ist perfekt und rettet ein Game-Unternehmen. Die Geschichte, die Entstehung, die Bedenken, die Kritik und Tipps für Eltern von kleinen Pokémon-Trainern.
Im Moment sind sie aus der Medienwelt kaum wegzudenken: Pokémon. Ein schlummerndes Phänomen ist zurückgekehrt – lauter denn je. Doch was hat es damit überhaupt auf sich. Ein Erklärstück für Unwissende und besorgte Eltern (hier gibts auch einen Selbsttest der TagesWoche in Basel):
Ein Blick in die Vergangenheit
Pokémon kommen aus Japan und stehen für Pokketo Monsuta respektive englisch Pocket Monsters. Entwickelt wurden die niedlichen Taschenmonster 1996 für Nintendos Gameboy. Damals glaubte selbst der Hersteller nicht so recht an das Potenzial und produzierte bloss eine begrenzte Stückzahl.
Der Erfolg liess aber nicht nach, und schon bald folgten Fernsehserien, Merchandise-Artikel und vieles mehr. Auf allen Konsolen wurden die Spiele veröffentlicht und schon bald unvorstellbare Verkaufszahlen erreicht. Nach über 200 Millionen verkauften Exemplaren galten Pokémon als globales Phänomen.
Mit dem Jahrtausendwechsel verschwanden die kleinen Monster aus dem Bewusstsein der breiten Masse – bei Kindern und Gamern aber blieben sie omnipräsent. Dank den äusserst populären Zeichentrickserien kannten auch «nicht-spielende» Kinder den berühmten Trainer Ash Ketchum und seinen gelben Pokémon Pikachu:
Das Spielprinzip
Das Spielkonzept ist ebenso simpel wie brillant: Der Spieler ist ein sogenannter Trainer. Ausgestattet mit einem kleinen Poké-Ball macht er sich auf, Pokémon zu fangen. Die tummeln sich überall in der fiktiven Welt und müssen zuerst gezähmt werden. Danach gehören einem die gezähmten Tierchen und stehen stets zur Verfügung. Man kann sie trainieren und sich dann in einer Arena mit anderen Trainern messen, indem man die verschiedenen Pokémon gegeneinander antreten lässt.
Ziel ist es, alle Pokémon – mehr als 150 – zu besitzen und damit den sogenannten Pokédex zu komplettieren. Jedes Pokémon hat besondere Fähigkeiten und kann klassifiziert werden. So gibt es beispielsweise Feuer-, Strom-, Wasser- und Erdpokémon. Natürlich sind auch nicht alle Pokémon gleich häufig, entsprechend hoch angesehen ist der Besitz der rarsten Wesen (die legendären Mew oder Mewto).
Profi-Pokémon-SpielerInnen kennen den gesamten Pokédex auswendig und wissen so genau, welches Pokémon welche Fähigkeiten hat und worauf es besonders anfällig ist. Dieses Wissen ist in Kämpfen unglaublich wertvoll und sorgt für grosse taktische Vorteile.
Und das ist das Ziel: Ein Pokémon mit seinem Ball zu fangen. (Bild: EPA/REMKO DE WAAL)
Pokémon in der Kritik
Mit der steigenden Popularität gerieten die Pokémon ins Kreuzfeuer verschiedenster Fraktionen. Eltern sorgten sich um den Geisteszustand ihrer Kinder, und religiöse Gruppierungen wähnten ihr Weltbild infrage gestellt – schnell war von Götzenanbetung und Satanismus die Rede. Das alles rief wiederum die Wissenschaft auf den Plan, und es erschienen erste Forschungsarbeiten zum Thema.
Der Zürcher Professor Jürgen Oelkers erklärte in einem Vortrag 2001, dass das Spielen von Pokémon durchaus konzentrationsfördernd sei und unter sehr komplexer Kompatibilität zwischen den einzelnen Elementen gespielt werde. Ferner sei auch erwiesen, dass das Ziel des Spiels keineswegs destruktiv ist, sondern eher die Gewaltlosigkeit durch eine verniedlichende Ästhetik der Monster propagiert wird.
Satan in Gelb? Nein, nicht ganz.
Wer sich einmal mit dem Spiel auseinandersetzt, stellt schnell fest, dass die verschiedenen Ängste meist unbegründet sind. Klar, eine starke markenbindende Komponente ist dem Konzept nicht abzusprechen und der Suchtfaktor ist gross – aber diesen Faktoren kann von Elternseite problemlos Gegensteuer gegeben werden.
Tägliche (oder wöchentliche) Spielkontingente sind im Umgang mit elektronischen Medien sowieso unerlässlich, und man kann auch im Verwandtenkreis die Info streuen, dass nicht jeden Bettbezug ein kleiner Pikachu zieren muss.
Steigende Aktienkurse und 10 Millionen Downloads
Nintendo hatte in den letzten Jahren mit der massiven Konkurrenz durch Smartphones und Tablets zu kämpfen. Die Konsolen-Verkaufszahlen blieben hinter den Erwartungen zurück, und die Umsätze schwanden. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2015 präsentierte der legendäre CEO Satoru Iwata deshalb eine neue Strategie.
Nintendo würde erstmalig von seinen proprietären Plattformen abweichen und Spiele auf fremden Mobilbetriebssystemen veröffentlichen. Miitomo hiess die erste Applikation, die die firmeneigenen Miis auf iOS- und Android-Geräten in eine Art Nintendo Social Network portierte. Der Erfolg war respektabel, aber keineswegs revolutionär. Darauf aber folgte nun der Jackpot: Pokémon Go.
Die Idee zum Spiel kam dem verstorbenen Nintendo-CEO zusammen mit dem Pokémon Company CEO anlässlich eines Aprilscherzes in Zusammenarbeit mit Google im Jahre 2014. Damals konnte man auf Google Maps verschiedene Pokémon suchen, was auf grossen Zuspruch stiess und von einer Google-Spin-off-Gesellschaft namens Niantic weiterentwickelt wurde.
Der Jackpot kam spät, aber dafür üppig für Nintendo.
Niantic hatte mit dem Spiel Ingress bereits Erfahrungen auf dem Gebiet gigantischer Augmented-Reality-Spiele gesammelt. Ingress wurde weltweit begeistert aufgenommen, denn es verwandelte die reale Welt in einen gigantischen Spielplatz. Mit dem Smartphone konnten Gebiete «erobert» werden, indem man sich an vorgegebene Orte bewegte, deren GPS-Position im Spiel angezeigt wurden.
Für Pokémon Go wurde nun eine App entwickelt, die (teilweise) kostenlos spielbar ist und genauso die reale Welt mit derjenigen der kleinen Monster vermischt. Rund um den Globus sind Pokémon verteilt, die nur gefangen werden können, wenn man sich an den tatsächlichen Ort bewegt. Das heisst: echte Fussmärsche (oder Velofahrten) durch die eigene Stadt. Am Zielort wird dann das Pokémon auf dem Bildschirm in den realen Hintergrund integriert und mittels Fingerwisch eingefangen. Natürlich kann auch gekämpft werden, wie in den bisherigen Pokémon-Spielen.
Kaum war das Spiel veröffentlicht, brachen die Server zusammen.
Zuerst wurde das Spiel in Australien, Neuseeland und den USA veröffentlicht. Kurz darauf brachen die ersten Server zusammen. Innert Stunden erreichte die App den ersten Platz der Download-Charts auf allen Plattformen – ein neuer Hype war geboren. Niantic musste gar den Release in Europa verschieben, um dem zu erwartenden Datenverkehr gerecht zu werden. Bis am 13. Juli seien gemäss der Analyse-Firma SensorTower bereits 15 Millionen Downloads erfolgt. Die Aktien von Nintendo stiegen laut Reuters über 10 Prozent – der Wert des Unternehmens verdoppelte sich. Das Geschäftsmodell scheint zu funktionieren.
Denn obwohl Pokémon Go kostenlos in den Stores steht, können verschiedene Zusatzfunktionen nur gegen echtes Geld erworben werden. Das sind zum Beispiel spezielle Pokébälle oder andere nützliche Zubehörteile wie Lockstoffe für wilde Pokémon und dergleichen. In einigen Wochen soll zudem ein Armband erscheinen, welches über Bluetooth mit dem Smartphone gekoppelt wird und das vibriert, wenn sich ein Pokémon in der Nähe befindet.
Die ersten Pokémon Go-Probleme
Bei derartigen Erfolgen lassen natürlich auch Negativschlagzeilen nicht auf sich warten. So zeigen sich viele Sicherheitsbehörden besorgt, weil die Menschen sich unkonzentriert in der realen Welt bewegen und sich auf der Jagd nach Pokémon in gefährliche Zonen (Bahngeleise oder stark befahrene Strassen) begeben.
Ferner sind verschiedentlich Pokémon-Fans in unerlaubte Räumlichkeiten vorgedrungen, weil dort rare Pokémon gefunden worden seien. Wie so oft ist jedoch unklar, welche dieser Nachrichten wahr sind und welche bloss der weiteren Legendenbildung rund um den Hype dienen.
Wenn Ihre Kinder bereits heute nach Pokémon Go schreien, müssen sie sich noch gedulden. Das Spiel wird in der Schweiz erst in den nächsten Tagen erscheinen und muss aktuell noch über komplizierte Umwege installiert werden. Davon raten wir ab – die Sicherheitsrisiken sind gerade auf Android-Geräten für Unerfahrene zu gross. Ist das Spiel einmal installiert, gilt es dennoch ein paar Dinge zu beachten:
Beachtet man die obigen Hinweise, kann Pokémon Go bedenkenlos empfohlen werden. Ähnlich wie beim vor einigen Jahren populären Geocaching werden Ausflüge in die freie Natur gefördert, und das Sammeln und das Auswendiglernen der kleinen Monster hat einen durchaus positiven Konzentrationseffekt. |