Getreu dessen, was politisch vernünftig ist, lehnen Politiker von rechts und links die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Aber sollten Politiker nicht auch Visionäre sein? Ein Gastkommentar der Initianten.
Pünktlich um 8:15 beginnt am 17.12. 2015 in der kleinen Kammer die Diskussion zur «Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen.» Anders wie im Nationalrat Ende September echauffiert sich hier niemand mehr inbrünstig. Die Gefahr der Initiative scheint gebändigt, die Angst gezähmt. Ignazio Cassis, der für die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats Stellung nahm, erklärte denn auch trocken, warum sich eine ordentliche Abstimmung im Rat gar nicht erst lohne: «Mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens könnte das System der Sozialversicherungen nicht vereinfacht werden, sondern würde verkompliziert.»
Weniger kompliziert ist die Psychologie dieser Politik. Sie ist vernünftig. Aber die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist keine vernünftige Sache wie eine Änderung im Gesetz zur Regelung der Packungsbeilagentexte, worüber anschliessend debattiert wird. Es ist eine Vision. Da ist es nur folgerichtig für einen Ständerats-Politiker, einer solchen Idee den Rücken zu kehren. Das ist Politik made in Switzerland: Segeln nach dem Wind der Bürger. Politiker müssen eins ganz bestimmt nicht sein: visionär.
Sachzwang I
Im Gegensatz zu den Rechten ist bei den Linken diese Vernunftspolitik jedoch erklärungsbedürftig. Ansonsten würde sich die Linke ein bisschen gar spiessig präsentieren. Mit Paul Rechsteiner meldet sich ein gestandener Gewerkschaftspolitiker zu Wort, der die Widersprüchlichkeit der Linken offenbart. Einerseits beschwört er das Gespenst der «gewaltigen Bürokratie», die für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nötig wäre – und das von SP-Frontpolitiker Rechsteiner!
Andererseits wird von einer «Wirtschaftspolitik» gepredigt, die «auf Vollbeschäftigung ausgerichtet werden muss». Jeder kann sich ausmalen: das ist er Inbegriff von Bürokratie. Nämlich wenn der Staat damit beauftragt wird, alle zu beschäftigen.
Sachzwang II
Anita Fetz, Ständerätin des Kantons Basel-Stadt, rückt dann die Initiative in ein anderes Licht. Sie beschreibt die Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens als «mehr als diskussionswürdig». Das Grundeinkommen reihe sich in diesem Sinne «in die grossen Errungenschaften unseres modernen Verfassungsstaates» ein. Fetz geht sogar so weit zu sagen, dass die Einführung eines bedingungslosen Einkommensteils in Zukunft keine Möglichkeit mehr sein wird, sondern aus Sachzwängen heraus installiert werden müsse.
Sind wir noch Visionsfähig?
Was mit den «grossen Errungenschaften» aus linker Optik gemeint ist, ist unschwer zu erraten: Die AHV, das Frauenstimmrecht, der Mutterschaftsurlaub und vieles mehr. Einst als Vision in die Verfassung geschrieben, hat die gesetzliche Umsetzung dieser Visionen Jahre und Jahrzehnte gedauert. So lässt sich auch die Initiative Grundeinkommen deuten. Aus den Sachzwängen heraus macht es keinen Sinn, ein bedingungsloses Grundeinkommen in die Verfassung zu schreiben.
Ausser Fetz, die als einzige für die Empfehlung der Initiative gestimmt hat (neben drei Enthaltungen), machen alle Ständeräte einen soliden Job: keinen Visionen nachträumen. Das ist schliesslich die Aufgabe von uns Bürgern. Die grosse Frage ist nun, wie visionsfähig wir am Urnengang 2016 noch sind, unter all den angeführten Sachzwängen.