Buchreview zu „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“ von Christian Heller (2011) //
In seinem Buch „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“ stellt Christian Heller die Grundlagen der aktuellen Debatte um den Schutz der Privatsphäre im Internet in Frage. Seine These lautet, kurz gesagt, dass es sich auch ohne geschützte Privatsphäre „prima“, wenn nicht sogar besser leben lässt. Der Verlust der Privatsphäre wird so zum Gewinn. Das ist gewollt provokant und auf den ersten Blick nicht ohne Reiz. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass, was Heller als alternative Utopie angekündigt, letztlich nicht mehr als eine Kapitulation vor den Entwicklungen der Technik ist.
Es gehört zu den Stärken des Buches, diese technischen Entwicklungen kenntnisreich zu beschreiben. Dabei kommt, wie Heller zeigt, zweierlei zusammen: Zum einen führt die zunehmende „Verdatung“ immer weiterer Lebensbereiche dazu, dass heute Daten in zuvor nie gekanntem Umfang verfügbar sind. Jede Suchanfrage bei Google, jeder Einkauf per Kreditkarte und auch jede Steuererklärung produziert Daten, die im Prinzip maschinell auslesbar sind. Zum anderen verfügen wir heute über die technischen Möglichkeiten, um all diese Daten nicht nur zu erfassen, sondern auch systematisch auszuwerten.
Im Lichte dieser technischen Entwicklungen werde es zunehmend unmöglich, einen zuverlässigen Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten. Die besondere Pointe der Verfechter der „Post-Privacy“ ist es jedoch, den Verlust unserer Privatsphäre als Vorteil zu begreifen. Während sich Datenschützer und Bürgerrechtler noch Sorgen um die Privatsphäre machen, schwört Heller uns bereits auf die Zukunft einer „Transparenten Gesellschaft“ ein. In Abwandlung von Orwell’s 1984 erscheint völlige Transparenz dabei nicht mehr als totalitäre Bedrohung, sondern befreit uns aus den Fesseln eines pathologischen Individualismus ebenso wie aus den Zwängen staatlicher Gewalt. Zum einen, so Heller, biete der freie Fluss von Informationen die Möglichkeit, vielfältige soziale Bindungen zu knüpfen. Je mehr wir alle übereinander wissen, umso mehr Anknüpfungspunkte entstehen. Zum anderen verflüssige ein wirklich freier Datenfluss bestehende Machtstrukturen: „In einer Transparenten Gesellschaft keine Privatsphäre zu haben heißt: zu allen Seiten hin angreifbar sein, gegenüber zahlreichen Mächten. Das jedoch in einer Welt, in der sich verschiedene Wissensmächte gegenseitig im Zaum halten können. In der es keine unangreifbar einzige Wahrheit gibt, sondern so viele Wahrheiten wie Augen, Ohren und Köpfe. In der jede Machtanmaßung von allen nur denkbaren Seiten kritisch beäugt und auf Schwächen untersucht werden, in der die Horizontale die Vertikale zähmen kann (116).“
Hellers Vision einer transparenten Gesellschaft lenkt den Blick auf die Chancen der digitalen Zukunft und bietet insofern eine bisweilen durchaus charmante Alternative zu den sehr viel weiter verbreiteten Untergangsszenarien, wie sie die Debatte um den Schutz der Privatsphäre zumeist dominieren. Sie offenbart jedoch, wie ich im Folgenden zeigen möchte, zugleich eine zutiefst unpolitische Kapitulation vor den Entwicklungen der Technik und ein höchst fragwürdiges Verständnis vom moralischen Wert der Privatsphäre.
Der Verlust der Privatsphäre ist für Heller eine Notwendigkeit, die sich aus den quasi-natürlichen Entwicklungen der Technik ergibt (vgl. hierzu auch die Überlegungen von Stefan Schulz bei den Sozialtheoristen). Für Versuche, dies politisch zu steuern, hat er dabei nur ein müdes Schulterzucken übrig. So etwa, wenn er den staatlichen Datenschutz als „Brückentechnologie“ beschreibt, dessen Funktion sich darin erschöpft, „dass er die Gewalt dämpft, mit der das Zeitalter der entfesselten Daten über uns kommt“ (93). Die Wortwahl suggeriert, dass auch Heller seiner Vision eines harmonisch-friedfertigen Übergangs in die „transparente Gesellschaft“ nicht ganz traut. Und dennoch scheint eine Alternative für ihn politisch nicht vorstellbar: Während er bei den technischen Möglichkeiten der Zukunft regelrecht ins Schwärmen gerät, steht für ihn zugleich unumstößlich fest, dass die politische Bearbeitung kollektiver Probleme von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Die Kapitulation vor der Technik scheint so nur folgerichtig. Wie Heller in fast schon Orwellscher Manier schreibt: „Wer einen Trend als mächtig zu erkennen glaubt, kann so mutig sein, sich in seinen Taktiken und Strategien ganz an diesem auszurichten “ (154).
Dass Heller diese Kapitulation so leicht fällt, ist schließlich wiederum Folge seines stark verkürzten Verständnisses von Privatsphäre. Der Wunsch nach einem geschützten Raum des Privaten erscheint bei ihm als kleinbürgerliches Relikt aus dem 19. Jahrhundert, als rein negativ verstandene Abschottung vor der Außenwelt, „als ein Geheimnis, als ein Wissen über mich, das Dritten verschlossen bleibt“ (26). Privatsphäre im Sinne von Geheimhaltung ist dabei laut Heller im besten Fall nicht mehr als eine Marotte und im schlimmsten Fall ein Herrschaftsinstrument zur Unterdrückung der Frau.
Nun ist der Begriff der Privatsphäre in der Tat umstritten, ebenso wie die Trennung zwischen der Sphäre des Privaten und der Öffentlichkeit. Und doch bleibt der Eindruck, dass Heller es sich zu einfach macht. Er wählt einen möglichst unattraktiven Begriff der Privatsphäre, um sodann zu argumentieren, dass wir diese nicht bräuchten. Eine solche Argumentation ist zwar in sich konsistent, wird jedoch dem Gegenstand nicht gerecht. Schließlich gibt es durchaus moralische Begründungen für den Schutz der Privatsphäre, die geeignet wären, Hellers Schlussfolgerungen mehr Widerstand zu leisten. So hat etwa Beate Rössler ausführlich dafür argumentiert, den „Wert des Privaten“ vor dem Hintergrund des Ideals einer selbstbestimmten, autonomen Lebensführung zu verstehen. Einerseits erscheint eine geschützte Privatsphäre so als wichtige Voraussetzung für Autonomie, andererseits wird die Verfügung über die eigenen Privatsphäre selbst zum Gegenstand autonomen Handelns. Wobei Letzteres eben nicht nur im Sinne der Abschottung nach außen zu verstehen ist. Ein selbstbestimmter Umgang mit der eigenen Privatsphäre kann schließlich auch bedeuten, mich anderen zu öffnen. Die Entscheidung darüber, ob und wie ich dies tue, ist jedoch ein wesentliches Element einer autonomen Lebensführung.
Heller hält dem entgegen, dass ein solch selbstbestimmtes Leben zwar vielleicht wünschenswert, aber doch letztlich unmöglich sei. Diese Einsicht ist nicht falsch, aber eben auch nicht neu. Vielmehr ist in der neueren Diskussion um den Autonomiebegriff unumstritten, dass individuelle Autonomie immer nur graduell verstanden werden kann. Die Frage ist demnach nicht, ob wir je vollständig autonom sein können, sondern welche Bedingungen Autonomie behindern oder auch befördern. Für die Beantwortung dieser Frage jedoch ist eine binäre Logik, wie sie Hellers Überlegungen zugrunde liegt, ungeeignet. Folgt man Heller, so müssen wir uns zwischen zwei Szenarien entscheiden: Auf der einen Seite vollständiger und umfassender Schutz der Privatsphäre, auf der anderen Seite „Post-Privacy.“ Zur Veranschaulichung mag eine solch starke Kontrastierung in Grenzen hilfreich sein. Politisch-moralisch jedoch finden die entscheidenden Auseinandersetzungen um Autonomie und Privatsphäre im Graubereich zwischen diesen beiden Extremen statt.
Diese Buchbesprechung erscheint zeitgleich auf dem Theorieblog – Ein Forum für politische Theorie und Philosophie