Wer Island bereist, lernt einen Zeitbegriff neu kennen: Die Stille. Der isländische Regisseur Grímur Hákonarson wurde mit «Hrutar» zum Sieger des diesjähren Zürich Film Festivals erkoren. Seine Schafs-Saga über zwei Brüder im hohen Norden der Insel ist sein zweiter Langfilm, und ein Lobgesang auf einen stillen Widerstand: Ab Mitte November läuft er in den Kult-Kinos.
Grímur Hákonarson, Sie haben in Cannes Aufsehen erregt und mit Ihrem Film auch die Jury in Zürich überzeugt. «Hrutar» ist der Sieger des diesjähren Zürich Film Festivals. Welchen eigenen Zeitbegriff kennt Island?
Die Natur hat bei uns ihre eigene Uhr. Sie prägt unser Leben. Sie beeinflusst unseren Alltag seit Jahrhunderten ähnlich. Schafszucht erstreckt sich auch heute noch über Generationen. Ein Schaf scheren dauert Minuten – entschieden länger als eine Maus klicken.
Selbst bei Eile trabt ein isländisches Pferd mit sehr kurzen Schritten …. Ihr Film entwickelt diese Entschleunigung zu unterschiedlicher Wirkung: Widerstand, Sturheit, Naturverbundenheit.
Ich habe viele Szenen ungeschnitten gelassen, weil ich genau dies wollte: Einen Realismus, der in den Köpfen der Zuschauer Raum für ein eigenes Zeitgefühl schafft und für Denken – für eigenständiges Denken.
Ein schnell geschnittener Film tut das nicht?
Nein. Ein ruhelos montierter Film appelliert nur an die Instinkte der Zuschauer. Mich hat das Thema Mensch in der Natur immer zum Nachdenken animiert. Auch das Aufeinanderprallen ihrer Zeitbegriffe. Für mich hat die Entschleunigung aber auch praktische Vorteile: Ich habe einen Film mit einem sehr kleinen Budget gemacht. Wir haben also in einem Bild viel einfangen müssen. Der Film ist in einer einzigen Gegend gedreht. So führt die Hauptstrasse in das Hochland genau an unserem Hof vorbei. Das war kostengünstig …
Ohne so zu wirken … .
Ich hätte viele, spektakulärere Landschaften in Island finden können. Aber ich wollte die Natur genau so in den Bildern sprechen lassen, wie ich sie selber erlebe. Sie verzeiht viel, aber sie ist erbarmungslos.
«Hrutar» ist aber auch ein Männerfilm. Die beiden Brüder nehmen an einem Züchter-Wettbewerb teil: Es gewinnt der Bock mit dem bestausgebildeten Hintern.
Hier sind die Regeln klar. Wenn zwei Schafshintern die gleichen Noten erhalten, wird der Muskel gemessen. Das macht den Unterschied. In unserem Fall 1 Millimeter.
Sie erzählen ja nicht nur die Geschichte der beiden Brüder. Ist es nicht auch eine Liebesgeschichte?
Ich erzähle die Einsamkeit zweier Brüdern, deren Liebe verkümmert. Viele Männer bleiben auf den Höfen allein übrig. Das kommt von den Verwüstungen der Industrialisierung. Agrikultur wird zu einem maschinellen Vorgang. Das treibt viele, vor allem Frauen, in die Städte. Dadurch entsteht dieses Überwiegen der Jungegesellenbauern: Sie bleiben bei ihren Familie – am Ende sind das die Tiere. Dadurch verliert die Liebe ihr Ziel zwischen Mann und Frau. Die beiden Brüder lieben ihre Schafe wie eine Familie. Beide haben nie eine Frau in ihr Leben gefunden. So werden sie wie ein Ehepaar zusammen alt. Ihre Liebe scheint – wie bei einem langjährigen Ehepaar – eingefroren. Der eine Bruder ist etwas maskulin, er trinkt. Auf ihn ist kein Verlass. Der andere etwas feminer. Er ist weitsichtig und fürsorglich.
Und die einzige Frau in ihrem Leben ist die Veterinärin, ein Dänin, eine Ausländerin, die ihre Existenz zerstört.
Sie ist die Gegenspielerin aus Vernunft.
Darin steckt auch eine sehr feine Anspielung auf die jüngste Geschichte Islands – jenem gewaltigen Betrug der Banker vor zehn Jahren?
Die beiden Brüder werden durch die Schafskrise gezwungen ihr Lebenswerk aufzugeben. Sie sollen alle ihre Tiere töten. Da geht es ihnen ähnlich wie vielen Isländern Vor zehn Jahren stürzten viele Leute in Island durch die Banker in tiefe Verzweiflung.
Ihre Art der Erzählung erinnert an die literarische Novelle. Orientieren Sie sich an Klassikern?
Ich liebe die Regeln der Erzählkunst, die klassische Narration. Aber ich liebe es auch, gegen ihre Regeln zu verstossen.
Zum Beispiel in Ihrer spärlichen Verwendung von Musik?
Ich mag es nicht, wenn die Musik dem Zuschauer seine Gefühle vorschreibt. Die wichtigste Musik in dem Film ist die Stille. Sie macht die Einsamkeit der Brüder noch grösser: Auch zwischen ihnen herrscht Stille. Gummi, die Hauptfigur, ist mit seinem leisen Leben glücklich. Sex spielt keine Rolle. Wohlstand spielt keine Rolle. Wer in der Weite Islands aufwächst, erhält eine Prägung, die in der Stadt nachwirkt. Sie beruht auf Stille. Ich lebe in der Stadt. Ich weiss, dass Lärm, Hektik und das schrille Stadtleben jede Stille zerstören. Ich bin manchmal für Wochen im Landhaus meiner Eltern. Ich lausche gerne in die Stille. Ich erfahre viel über mich.
Ihre Gebrüder Bodvarssons sind Ihre Geistesverwandten?
Menschen, die der Natur ausgesetzt sind, entwickeln eigene Zeitbegriffe. Wenn ich mich viel unter Menschen bewege, muss ich mich zurückziehen können, um wieder Zeit zu finden. Auch Touristen wollen in Island der Hektik entfliehen. Man kommt zu uns, um durchzuatmen.
Nicht nur die Kamerarbeit des Norwegers Sturla Brandth Grøvlen fängt viel von diesem Spirit ein. Man erkennt auch rasch, dass Sie sich mit der Land-Arbeit beschäftigt haben.
Ich habe selber als Bauer gearbeitet. Ich weiss, wie man einen Traktor fährt. Ich weiss auch sehr gut, dass der alte Mann den Körper seines Bruders Kiddi nie alleine hochheben kann. Aber sehr wohl mit der Mistschaufel des Baggers. Aber Gummi hat in seiner Isolation Praxis entwickelt. Er muss ohne seinen Bruder klarkommen. Das sieht für Städter ungemütlich, ja, brutal aus, wenn er ihn so transportiert. Sigurður Sigurjónsson, der Schauspieler, der diese Szene spielt, war ein Bauer. Er kennt die spezielle Vernunft der Arbeitenden.
Wie gross war ihr Budget?
Insgesamt fast eine Million Euro. Das ist ein kleines Budget. Ich bin also gar nicht in Versuchunggebracht worden, einen isländischen Action-Thriller zu drehen.
Mit welchen anderen Filmern fühlen Sie sich stilistisch verwandt?
Man bringt mich in Island immer in die Nähe von Loach. Ich versuche, wie er, nicht mit den Erfindungen von Hollywood zu konkurrieren. Ich fange mit dem schmalen Budget Bilder von wirklichen Menschen in Island ein, ihre kleinen Kämpfe und grossen Verzweiflungen. Ich versuche als Künstler das Timing aus Arbeit zu entwickeln. Arbeitende zu lesen. Das habe ich als Dokumentarist gelernt.
Ihre Figuren scheinen seit Jahrhunderten mit dem Ort verwurzelt. Beide Hauptdarsteller sind grosse Schauspieler im isländischen Theater. Wie haben sie sich vorbereitet?
Sigurður Sigurjónsson und Theodór Júlíusson leben in der Stadt und spielen Theater. Das bedeutet, dass sie viel Erfahrung mitbringen, wie man Dialoge spielt. Aber Sigurjónsson hat auf einem Bauernhof gearbeitet als Teenager. Wir haben auch mit den dortigen Bauern gemeinsam geprobt. Das einzige Problem für uns war: Sie sahen nicht wie Brüder aus. Deshalb die Bärte.
Auch das hat sicher seine Zeit gebraucht ….
Jetzt sehen sie miteinander verwachsen aus. Sie sind wie zwei Bäume auf dem Hof stehen geblieben.
Sie leben in einem Land, von dem man sagt, jeder zweite Einwohner sei ein Poet. Isländer wissen aber zum Beispiel auch, wie man einen Schneesturm überlebt.
Sigurður Sigurjónsson hat tatsächlich auch als Drehbuchautor gearbeitet …
Isländer wissen aber zum Beispiel auch, wie man einen Schneesturm überlebt.
Zum Beispiel erzählt man sich die Geschichte einer erfrorenen Frau. Zwei Kerle fanden sie – fast tot. Sie haben sich nackt ausgezogen und sie im Schnee so lange gewärmt, bis sie transportfähig war. Sie hat überlebt.
Daran erinnert das letzte Bild Ihres Filmes. Stand es von Anfang an fest?
Ich habe das Ende lange verworfen und umgestellt. Jetzt ist der Schluss offen. Ich habe ihn dazu erfunden. Man könnte sagen, es ist das «Paradise Lost» der beiden Brüder. Dort treffen sich wieder.
Der Film läuft ab Donnerstag in den Kult-Kinos.