Es ist nicht leicht, Filmemacher in Portugal zu sein, erzählt Miguel Gomes im Interview: «Die erste Sparrunde der Regierung hat das Ministerium für Kultur abgeschafft». Auch die Protagonistin seines Films, Aurora, ist am Rande des Ruins.
Herr Gomes, sie kommen eben aus Strassburg, wo sie auf der Shortlist des «Lux» standen, dem Preis des europäisches Parlaments. Gratulation. Sind die rund 650 Parlamentarier des Europaparlamentes ebenso Experten im Filme beurteilen wie im Schulden tilgen?
Ich wurde von Parlamentariern zu meinem Film befragt, der von einer Expertenkommission dem Parlament zur Auswahl vorgeschlagen wurde. Ob sie die Filme gesehen haben, weiss ich nicht …
Ursula Meiers «L’Enfant d’en haut» war auch auf der Longlist der Nominierten. Hat sie darunter leiden müssen, dass sie als Schweizer Produktion galt, und es keine Schweizer Parlamentarier im Europa-Parlament gibt?
Man hat mir gesagt, es seien zum Zeitpunkt der Abstimmung sehr viele Italiener im Parlament gewesen …..
Die Parlamentarier entschieden sich schliesslich für den italienischen Film «Io sono Li» von Andrea Segre. Aber zurück zu Ihrem Film. Er fängt im heutigen Portugal am, wenn auch am Rande des Lebens.
Leben ja. Aber mein Film will nicht das Leben kopieren. Das Leben ist nicht kopierbar. Das Kino verliert immer gegen das Leben. Das Kino kann hingegen seine eigenen Regeln schaffen, wenn es Leben schildert. Wir reden im Leben nicht wie in einem Abenteuerroman. Aber im Film kann ich mich entscheiden, das Leben als ein Abenteuer zu sehen, wie im 18. Jahrhundert, oder es in einer Sprache zu erzählen, wie Daniel Dafoe sie benutzte. Indem die Off-Stimme diese Sprache benutzt, gibt er der Wirklichkeit ein anderes Gesicht. Die Menschen brauchen Geschichten, Erzählungen, Lieder, um die Wirklichkeit zu verstehen und zu meistern. Meine Geschichte von Aurora ist die einer Geliebten, die ihre Vergangenheit, ihre grosse Leibe, mit den Augen anderer, revidiert, mit aller Gewalt, Betrug, Leidenschaft.
Ist Auroras Geschichte in Tabu ein Kommentar zu der Geschichte Portugals?
Portugal bietet vielleicht die Kulisse, ja. Im zweiten Teil des Filmes, der in einer afrikanischen Kolonie spielt, ist sicher Aurora die Hauptperson des Filmes. Trotzdem ist der erste Teil eher eine Geschichte der alten Frauen, von Personen, die ihre Zeit verlieren, denen die Zeit davonläuft, die sich um die Fehlleistungen anderer kümmern, um die Vergangenheit. Es ist das in die Jahre gekommene Portugal. Das sich bewusst wird, dass es Fehler gemacht hat. Aurora ist das narrative Zentrum.
Sie ist also weit mehr als eine Hauptperson. Sie ist eine Metapher. Sie kehrt in der Erzählung zurück.
Sie ist das Zentrum der Bemühungen der anderen. Sie ist die «Morgenröte», nichts anderes bedeutet sie im Lateinischen. Pilar, ihre Nachbarin, ist sich sehr wohl im Klaren, dass vieles schief läuft in ihrer Welt. Sie ist die wichtigste Person im Leben von Aurora. Sie ist Katholikin und will vieles zurechtrücken.
Lässt das keinen Rückblick auf die Greuel der Kolonialzeit zu? Oder ist es eher ein Ausblick auf die Bewältigung von Vergangenheit, die noch vor Portugal liegt?
Der zweite Teil des Films stellt hingegen eine Art Opposition zum ersten Teil dar. Dort geht es um Auroras Geschichte. Dort geht es um ihre sorglose Lebensart. Sie lebte wie im Film.
Ist das der Grund, dass Sie das Genre wechseln? Plötzlich befinden wir uns in einer Art Stummfilm.
Der zweite Teil des Filmes ist überwiegend aus Improvisationen entstanden. Wir haben die folgenden Drehtage jeweils kurz davor besprochen, und dann mehr oder weniger freihändig gedreht. Während der erste Teil sehr genau nach einem lange geplanten Drehbuch gearbeitet ist, ist der zweite Teil auch dem Zufall geschuldet. Wir haben oft Dinge gedreht, und erst nachträglich vertont …Wir zeigen, wie die Menschen in jener Kolonialzeit das Leben wie eine lange Party leben, ohne Bewusstsein für ihre Taten. Wir drehten diese Zeit, die sich in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts abspielt, als würden sie tatsächlich Teil sein in einem Film über sich selber. Sie führen ein äusserliches, oberflächliches Leben. Ohne soziales Bewusstsein. Ohne die Voraussicht, dass der Kolonialismus scheitern wird.
So wie ein Teil der Menschen heute noch? Geht das überhaupt noch?
In Portugal haben heute 16 % keine Arbeit. 40 % der jungen Menschen sind arbeitslos.
Portugal ist aus einer Kolonialmacht zu einem klassischen Auswanderungsland geworden. Eines der beliebtesten Auswanderungsziel der portugiesischen Arbeitslosen – ich habe von 500 pro Monat gehört, ist – Angola!
Es sind viele Heimkehrer von Auswanderern, klar, die Kinder kehren eigentlich als Auswanderer in die Kolonie zurück. Aber effektiv gehen viele gut qualifizierte Arbeitslose dorthin, weil sie dort mehr gebraucht werden.
Motive die sich in «Tabu» nur versteckt wiederfinden.
Wir haben den ersten Teil des Filmes 2009/10 gedreht. Die Krise hat damals noch nicht so heftig gewütet. Wir wussten natürlich damals, dass die Entwicklung nicht gut war, aber wir ahnten nicht, wie gefährlich sei werden würde.
Wir trifft das die Filmindustrie? Wieviele arbeitslose Schauspieler gibt es?
Ich kenne die Zahlen nicht. Aber im Jahr 2012 ist in Portugal kein einziger Film produziert worden. Es ist keine Finanzierung zustande gekommen. Die erste Sparrunde der jetzigen Regierung hat erst einmal das Ministerium für Kultur abgeschafft. Die Kultur hat in der Regierung keine Vertretung mehr. Viele Theater schliessen. Jetzt ist immerhin ein neues Kulturförderungsgesetz in Vorbereitung.
Können sich die Menschen überhaupt noch Kinobesuche leisten?
Sie schauen fern. Das portugiesische Kino hat ein sehr kleines Publikum für portugiesische Filme. Das macht die Marktbedingungen sehr schwierig. Filmproduktion rechnet sich nicht. Würden die Kinos nicht unterstützt, es würden keine portugiesischen Filme gezeigt.
Immerhin das funktioniert
Ja. Auch ohne Ministerium für Kultur …. Das Fehlen der Mittel bewirkt immerhin, dass die Filme, die dann gemacht werden, sehr persönlich sind, weil sie von einer grossen Freiheit profitieren. Wenn niemand Geld gibt, redet auch niemand rein.
Rückt das «Tabu» auch in die Nähe der ersten Jarmusch-Filme oder jene von Kaurismäki, in denen diese ihren eigenen Stil fanden?
Ich liebe deren Filme sehr. Aber wenn ich Film mache, suche ich etwas, was in den Köpfen der Zuschauer produktiv wird. Was die Zuschauer sehen, die Wirkung, ist eigentlich nicht in meiner Verantwortung. Zum Beispiel kann jeder seine ganz eigene Verbindung mit dem Titel machen. Wenn sie das mit Murnau verbinden, dann ist das berechtigt. Aber Tabu hat bei Murnau einen ganz anderen Kontext. Ich meine damit einen sterbenden Stil. Murnau hat nur Stummfilme gemacht. Danach ist sein Stil mit ihm erloschen. «Tabu» ist aber trotzdem keine Hommage. Murnau braucht keine Hommage von mir. Ich habe eine Verbindung zu einem sterbenden Stil gesucht und im Stummfilm gefunden. Das Kino als Ganzes ist, wie die Frauen im ersten Teil von «Tabu», in die Jahre gekommen. Es hat ebenfalls seine Jugend verloren. Es kann kann Afrika nicht mehr erfinden wie früher. Es kann uns nicht mehr so viel Glauben machen, wie in seinen jungen Jahren, dass es ein Afrika gibt, das wir nur im Film sahen.
Steht das Krokodil auch für diesen Verlust?
Das Krokodil steht nur für das Krokodil. Man kann es durchaus als ein sehr, sehr, sehr altes Lebewesen sehen. Oder als ein Träger von Erinnerung. In den Augen des Krokodils steckt viel Erinnerung aus uralten Zeiten. Die drei Frauenfiguren leiden ebenfalls darunter, dass ihr Paradies verloren haben, ihre Jugend ist ihnen abhanden gekommen. Mein Film lebt von solchen Sehnsüchten.
- «Tabu» von Miguel Gomes läuft derzeit in den Schweizer Kinos, etwa im Kino Camera in Basel.