Roy Anderssons Lied von der Taube

Seine Bilder fielen immer schon aus dem Rahmen: Sie sind erbarmungslos, erschütternd und trotzdem komisch. In seinen liebevollen Betrachtungen steckt viel Verzweiflung und dennoch auch Gelächter. In Venedig erhielt Roy Andersson dafür den Goldenen Löwen. Roy Anderssons Film-Album aus 39 Bildern erlaubt uns, bei jedem Bild lange zu verweilen. So lange, wie bereits der Titel […]

Selbst die Tanzstunde wird bei Roy Andersson zu einem Gemälde

Seine Bilder fielen immer schon aus dem Rahmen: Sie sind erbarmungslos, erschütternd und trotzdem komisch. In seinen liebevollen Betrachtungen steckt viel Verzweiflung und dennoch auch Gelächter. In Venedig erhielt Roy Andersson dafür den Goldenen Löwen.

Roy Anderssons Film-Album aus 39 Bildern erlaubt uns, bei jedem Bild lange zu verweilen. So lange, wie bereits der Titel ankündigt: «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» (Eine Taube sass auf einem Zweig in Gedanken über das Dasein).

Die drei ersten Bilder überschreibt Andersson mit: «Rendez-Vous mit dem Tod». Bild 1: Ein Mann überanstrengt sich beim Entkorken einer Weinflasche und stirbt einen ganz und gar tristen Alkoholikertod neben einer vollen Flasche. Bild 2: Eine Mutter besteht im Sterbebett unter ungerührten Kindern darauf, wenigstens ihre Handtasche mit in den Himmel nehmen zu können. Bild 3: Ebenso unberührt bleiben die Schiffspassagiere, die im Self-Service um einen überstürzt verstorbenen Reisenden herumstehen. Niemand will das Essen, das auf dem Tablett neben dem Verstorbenen steht, obwohl es bereits bezahlt ist. Nur für das Bier findet sich schliesslich ein Abnehmer. Immerhin hat der Tod jetzt einen Sinn.

Ein Bilderbogen mit losen Verbindungen

Je nachdem, wie man im Folgenden Anderssons Fäden aufnimmt, wird der Betrachter einen unterschiedlichen Weg durch die Bildergalerie einschlagen: Wofür steht etwa die Taube, von der im Titel die Rede ist? Im Prolog sitzt sie ausgestopft, in der Glasvitrine und wird eingehend betrachtet von einem Museumsgänger, hinter dem ein Adler im Anflug die Flügel streckt, ebenso ausgestopft wie die Taube.

In Bild 20 gurrt die Taube, während eine Frau mit dem Baby im Kinderwagen spielt. Auch in Bild 30 gurrt sie, als der bankrotte Scherzartikelverkäufer sich einen Moment Ruhe gönnt und in einer kleinen Begebenheit die Schönheit des Daseins bewundert. Aber hat uns da das kleine Mädchen nicht im Bild 18 bereits schon erklärt, wie es sich mit der Taube verhält? «Sie ruht sich aus und denkt nach.» «Worüber?», fragt liebevoll akribisch der Lehrer. «Dass sie kein Geld hat.»

Glaube, Liebe, Hoffnung

Anderssons Methode der Annäherung an seine Figuren ist erfüllt von abgrundtief komischer Verzweiflung über den Menschen. Wenn die Mutter auf dem Sterbebett ihre Handtasche nicht loslassen will, ist ihr Wille stärker als ihr Glaube.

Wenn der Sohn seine Hoffnung, er werde seine Jugendliebe im Himmel wiedersehen, zu Ende denkt, findet er sich mit einer – für ihn – entsetzlichen Wahrheit konfrontiert: Wenn er seine Liebe ewig findet, dann wird er auch ewig mit seinen Eltern im Himmel zusammen sein müssen!

Die Menschen sind bei Andersson aber auch immer wieder voller Hoffnung auf unwiderstehliche Geschäftsideen. In «Songs from the Second Floor» wurde noch der Vertrieb von Jesus-Kruzifixen im grossen Stil aufgezogen. Die Idee war bestechend. Immerhin handelt es sich um die berühmteste Persönlichkeit der Welt, nach Elvis Presley! Und das Jesus-Jubiläum, das Jahr 2000, stand bevor!

Zwei Vertreter der Unterhaltungsbranche

Zwei Vertreter der Unterhaltungsbranche

In der «Taube» ist die Geschäftsidee ebenso glänzend: Die Menschen wollen unterhalten sein! Sie wollen Lachsäcke, Vampirzähne und Gummimasken! Also lässt Andersson die beiden himmeltraurigen Scherzartikel-Verkäufer bei jeder Gelegenheiten ihren Vertreterkoffer öffnen. Er ist dabei nie um eine liebevolle, rabenschwarze Lösung verlegen. Je tiefer sich bei Andersson die Abgründe öffnen, desto feiner malt er sie uns aus.

Der Reichtum des Lebens der Renaissance

Anderssons Menschen sind arm und reich zugleich: Der Herr Direktor aus Bild 23 in seinem herrschaftlichen Büro ist – mit der Pistole in der einen und dem Telefon in der anderen Hand – dennoch ein zahlungsunfähiger Mensch. Über ihm droht im Sturzflug ein stolzer Adler in Öl gemalt – wie im Prolog der ausgestopfte Adler über dem armen Museumsgänger lauerte.



Ein weiterer Verwandter: Brueghel

Ein weiterer Verwandter: Brueghel

Wie beim Durchschweifen der Gemälde Brueghels darf in Anderssons Bildkompositionen jeder den eigenen Faden finden, je nachdem, in welcher Reihenfolge des Hinsehens man sich in seinen grossformatigen Bildern festschaut.

Ein-Bild-Geschichten zu einem grossen Fresko verknüpft.

Nach 38 Schnitten wären andere Filmer in Filmminute 2. Auch da ist Andersson einzigartig: Er lässt von seinen insgesamt 39 Bildern jedes so lange stehen, bis sich dessen Geschichte in uns herstellt. Er verweigert sich dem «movie» – und macht doch «pictures».

Darin könnte man auch die Verweigerung von Film sehen. Doch malt Andersson hierzu seine Räume in derart abstossender Schönheit, dass wir uns unseren eigenen Film machen müssen: In ein fahles Edward Hopper-Licht getaucht, folgen wir mit dem abgründigen Witz von Otto Dix den Figuren und betrachten sie mit der Kaltblütigkleit des Francisco de Goya in grausamen Situationen.



Bis in die Farben folgt Andersson Otto Dix

Bis in die Farben folgt Andersson Otto Dix

Dabei ist Andersson in den Situationen so undramatisch wie Beckett, und im Dialog so karg wie Horvath. Vielleicht steht er auch deshalb im Verdacht, seit «Songs from the second floor» und «You, the Living» immer wieder – wie Fellini – denselben Film zu drehen. Wie der verspielte König der Cinecitta hat er eine – nordische – Studio-Sprache erfunden, die von Künstlichkeit strotzt. Tatsächlich sind seine Raum-Schöpfungen Variationen, die er, wie Fellini, über Wochen mit seinem Team im Studio entwickelt.

Variation ist dabei Anderssons Lieblings-Methode. Die Themen werden dabei nicht nur innerhalb seiner Filme immer wieder neu kombiniert. Auch zwischen den Filmen knüpft er Verbindungen: Wurde in «Songs from the Second Floor» noch ein Mädchen vor der versammelten Schule unter der liebevollen Ermutigung der Lehrerin an den Abgrund einer Klippe geführt, um dort einen entscheidenden Schritt nach vorne zu machen, darf das Mädchen in der «Taube» ein selbergeschriebenes Gedicht erzählen – auf der Schultheaterbühne.

«Am Anfang», sagt Andersson im Gespräch, «war das Bild»

Zum Bild gehört bei Andersson auch immer dessen Rhythmus und die Musik oder die Melodie, die im Bild steckt. Auch akustisch variiert Andersson seine Motive. Taucht «The Battle Hymn of the Glory» (Halta Lotta) in Bild 13 noch als ein Trinklied auf, soll es in Bild 19 die Soldaten vor der Schlacht gegen die Russen ermutigen. In Bild 29 erklingt es erneut, mit anderem Text, als Abgesang für die Kriegswitwen. Das alte Lied – mit immer neuem Text.

Man kann sich bei den 39 Sittenbildern ebenso sattsehen wie bei Goyas Malerei. Sie sind brutal wie dessen Kriegsskizzen. Und kunstvoll wie dessen Porträts. Monatelang arbeitet der Schwede für jede Szene mit seinem Team im Studio an seinen Raumkunst-Installationen. Seine Methode ist einfach wie aufwändig: Als wollte er eine ganze Theateraufführung in ein Bild fassen, lässt er seine Figuren in haarsträubenden Situationen festgefahren wirken. Dennoch sind seine Bilder sehr kommunikativ: Ausgerechnet er, der das Erzählkino nicht mag, ist ein begnadeter Geschichtenkonstrukteur. Darin folgt er der Renaissancemalerei mehr als dem narrativen Kino.

Andersson schafft es, immer mehrere Erzählstränge am Laufen zu halten. Wer seine Bilder lang genug betrachtet, wird die Geschichten ganz für sich allein entdecken – und mit anderen lachen.



Roy Andersson der Gewinner in Venedig

Roy Andersson der Gewinner in Venedig

Kaum scheint die hinreissend temperamentvolle Flamencotänzerin, die ihren Lieblingstänzer immer wieder kontaktfreudig betatscht hat, vergessen, da sitzt sie – ein paar Bilder später – hinter dem Generalleutnant, der auf der Strasse telefoniert. Er vermutet, er habe sich wohl in Uhrzeit und Tag geirrt, da im Restaurant niemand auf ihn warte. Von ihm unbemerkt wird derweil, im Fenster des Restaurants im Hintergrund, die Flamencotänzerin weinend von ihrem Schüler sitzen gelassen.

Die innere Verbindung der Einzelteile

Auch wenn Roy Andersson dem Bild verpflichtet ist, ist er dennoch ein Poet des Wortes. Er wendet das Wort aus dem Alltag einfacher Menschen an, ähnlich dem Schweizer Mundartdichter Ernst Burren. Er schaut den Leuten erst auf die Finger, dann auf die Lippen.

Roy Andersson schafft es, in einem einzigen Satz eine Gefühlswelt zusammenzufassen: «Die Menschen sind meist glücklicher, wenn sie hören, dass andere glücklich sind, als wenn sie es selber sind», sagt er dazu.

«Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht» («Va roligt att höra, att ni har det bra»), ist einer dieser Leitsätze, die durch das 39-Bilder Album führen: Der Direktor sagt den Satz, während in dessen Hand eine Pistole baumelt, und er die andere Hand mit einem Telefonhörer an seinen Kopf hält. Die Tierforscherin im Tierversuchs-Labor sagt den Satz ins Telefon, während neben ihr ein verdrahteter Affe sich windet, von Stromwellen gepeinigt. Sie wiederholt es, aber noch liebevoller, weil sie wegen des Affengeschreis schlecht verstanden worden sein mag.

«Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht», sagt auch die Putzfrau, die am Boden kniet.

Der unfassbare Narr aus dem Königreich Schweden

Andersson ist der böse Schalk unter den nordischen Filmern. Er ist der ins Detail verliebte Narr des Königreichs Schweden. Wenn Soldaten die Frauen aus der Eckkneipe vertreiben, dann nur, weil demnächst der König kommt.

Carl XII reitet denn auch gleich samt Pferd an die Bar und rekrutiert, nach einem Glas Wasser, den Barkeeper zum Soldaten (und zu seinem Geliebten). Er will auch bei ihm im Zelt schlafen. Ein paar Bilder später will der gleiche König, auf dem Rückweg von der (wegen des Regens) verlorenen Schlacht, seiner Notdurft nachgehen. Doch da ist die Toilette leider besetzt. Und der Barkeeper tot.

Anderssons Humor ist von gewaltigem Ausmass, aber eben nicht immer zum Schreien komisch: Während ganz langsam ein Eisenbahnzug wuchtig vorbeirollt, zerstreiten sich die beiden Scherzartikel-Geschäftspartner ausgerechnet darüber, dass der eine immer viel zu langsam geht. Wie ein Zombie!

Als wären Christoph Marthalers Figuren in die Bilder von Edward Hopper geflohen und müssten dort auf ihren letzten Einsatz in der Endzeit warten. Dabei ist Andersson längst über Marthaler und Kantor hinaus. Ihn verbindet mit beiden seine enorme Theatralität. Die Aktionen sind bei ihm filmische Marter. Theatralisch lässt er uns mit jedem Bild frohlocken.

Andersson ist aber nicht nur ein erbarmungsloser Chronist. Er ist auch ein souveräner Anachronist. In Bild 35 fasst er, schon fast am Ende des Bilderrundgangs, mehrere geschichtliche Ungeheuerlichkeiten in einer grandiosen, heutigen Metapher zusammen: Der Kolonialismus von damals wird zur Genozid-Oper von heute (sie können die Beschreibung des «sizilianischen Bullen» in Anderssons Porträt nachlesen, das die TagesWoche zur Preisverleihung in Venedig veröffentlichte).

Auch hier: das alte Lied.

Unbezweifelt ist nur die Verzweiflung

Andersson ist keinem überstürzten Zeitgeist auf der Spur: Er zeichnet Stillstand. Und ortet dennoch viel Bewegung: Wie Brueghel oder Otto Dix arbeitet Andersson mit grosser narrativer Klarheit, die auf den ersten Blick eindeutig, beim längeren Hinschauen aber lustvoll vieldeutig wird.

«Eine Art neue Sachlichkeit», nennt Andersson die Methode im Gespräch.

Seine Bilder erfinden nicht die Brutalität des Lebens, sie verdichten sie nur, lakonisch, ja, erbarmungslos, und strahlen dennoch die Frommheit einer Pietà aus: Andersson interessiert sich für die ganz, ganz kleinen Glücksgefühle, jene der Opfer.

Immer wieder kehrt er so im Hauptstrang seiner Bilder zu den beiden Rittern von der traurigen Gestalt zurück. In ihrem Bemühen, der Welt Spass zu verkaufen, sind Sam und Jonathan zerstritten, wie ein Ehepaar, und unbeirrbar störrisch.

Da auch die Kunden der beiden Unterhaltungsbranchenvertreter zahlungsunfähig sind, sind auch ihre kleinen Versöhnungen kaum Trost. So führt das Paar ein Leben als Einzeller in Einzelzellen, in einem streng geführten Heim. Dem «Volksheim», wie die Schweden ihr soziales Modell liebevoll nennen. Das schützt zwar vor allerlei, zum Beispiel vor Betreibungsbeamten, aber nicht vor Albträumen.

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Der Film läuft ab 15.1. in den Kult-Kinos.

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