Schlussakkord in Locarno: «Schweizer Helden» gewinnt Publikumspreis

Die Sieger stehen fest. Locarno zeigt seine starke Seite. Mut wird belohnt. Tiefsinn fällt auf. Oberfläche geht unter. Am Ende eines Festivals setzt sich aus all den gesehenen Filmen ein Film zusammen, dessen wichtigste Augenblicke man dann doch verpasst hat. Locarno, das grösste der kleinen europäischen Festivals, zeigte ein Europa im Stillstand. Künstlerisch. Inhaltlich. Gedanklich. […]

Publikumslieblinge «Schweizer Helden» von Peter Luisi.

Die Sieger stehen fest. Locarno zeigt seine starke Seite. Mut wird belohnt. Tiefsinn fällt auf. Oberfläche geht unter.

Am Ende eines Festivals setzt sich aus all den gesehenen Filmen ein Film zusammen, dessen wichtigste Augenblicke man dann doch verpasst hat. Locarno, das grösste der kleinen europäischen Festivals, zeigte ein Europa im Stillstand. Künstlerisch. Inhaltlich. Gedanklich.

Dennoch gibt es Sieger: Dem Mutigen gehört der Publikumspreis. Peter Luisi hat mit seiner Truppe aus Secondos die Herzen des Publikums gewonnen. Der Hauptpreis «Pardo d’oro» geht, wie erwartet, an «Mula sa kung ano ang noon» des Philippiners Lav Diaz. Ariane Labed ist der Jury als beste Schauspielerin aufgefallen. Eine besondere Erwähnung fand «Ventos de Agosto» von Gabriel Mascaro (Brasilien). Als Erstling gekürt wurde «Songs from the North», ein Werk mit erschütternden Bildern aus Nordkorea.

Die Krise erreicht das Kino

Während sie von den Politikern Europas schöngeredet wird, hat sie den Film erreicht: Die Krise. In Frankreich hat man in diesem Jahr die «Intermittants», jene Teilzeitbeschäftigten, ohne die der Film gar nicht leben kann, aus der Arbeitslosenkasse verbannt.

Derweil tauchen in den Fiktionen des Films die Arbeitslosen anderweitig auf: Im grandios montierten «They Chased Me Trough Arizona» des Schweizers Matthias Huser demontiert ein Arbeitsloser die Überreste einer Investmentleiche. In einem völlig übersteuerten «A Blast» lässt der Grieche Syllas Tzoumerkas eine Arbeitslose ausrasten. In «Perfidia» des Italieners Bonifacio Angius ist der arbeitslose Sohn noch nicht einmal in der Lage, erwachsen zu werden.

In dem prachtvoll fotografierten «Exit» des Chinese Chienn Hsiang sucht eine arbeitslose Näherin wortlos nach einem Strohhalm im Leben, und pflegt einen Unbekannten, der nach einem Arbeitsunfall zu erblinden droht.

Der Solitär: Filmische Wucht aus den Philippinen

Der Solitär: Filmische Wucht aus den Philippinen

Die Krise der Öffentlickeit und die privaten Krisen

Wen die ökonomische Krise nicht erfasst, der gerät im fiktiven Film in andere Krisen: In «La sapienza» des Franzosen Eugène Green gerät ein Architekt in einen Sinn-Stillstand. In dem ebenfalls französischen «Un jeune poète» langweilt sich (und uns) ein Langweiler mit einem Gedicht, das er nicht zustande bringt.

Über allem schwebt der Geist des Stillstandes. Der europäische Fiction-Film denkt zwar über Armut nach: Aber Armut ist kein Exportschlager, dem man künstlerische Grenzüberschreitungen zutraut. Da neigt man zu Agenten-Parodien («A Hitmans Solitude Before The Shot», oder schalen Beziehungs-Komödien wie bei «Love Island»).

Immerhin. Der Dokumentarfilm berichtet noch von Menschen die arbeiten: Entweder sie bewegen mit Manneskraft gleich einen der grössten Ströme der Welt dazu, mal in ein anderes Meer zu fliessen  wie in «Sud Eau Nord Déplacer» von Antoine Boutet. Oder sie bauen, in einem der eindrücklichsten Filme des Festivals hoch oben an einer chinesischen Bergflanke an einer neuen Schule («Ming Tian Hui Geng Hao»). Selbst der Sieger des Semaine-Preises «Mort du Dieux Serpent» übt Stillstand: Eine junge, ausgeschaffte Frau, findet sich wieder in ihrem Dorf in Afrika zurecht.

Das verschonte Land Schweiz

Was bleibt für den Schweizer Film in all dem Stillstand? Marcel Gisler hat the making of a star in «Electroboy» gekonnt entblättert. Peter Luisi hat mit «Schweizer Helden» ein Thema riskiert, an das andere sich nicht heranwagen. Andrea Štaka ist es geglückt, nicht auf der Erfolgsschiene von «Das Fräulein» zu bleiben. Fernand Melgar hat mit «L’Abri» beklemmende Obdachlosennächte festgehalten.

Herausragend: Mathieu Urfer hat mit seinem Erstling «Pause» die ohne Zweifel stimmigste Liebesgeschichte des Festivals erzählt. Eeran Riklis hat mit «Dancing Arabs» bewiesen, dass die Gedanken sich auch an der palästinensischen Mauer bewegen können. Und Yury Bykov hat mit seinem grossartigen «Durak» daran erinnert, was Film ja eigentlich auch noch könnte: literarisch sein, ohne bildungsbürgerlichen Dünkel. Und niemand wird, wenn gesehen, je den Fünfeinhalbstünder «Mula Sa Kung Ano Ang Noon» von LavDiaz vergessen. Er allein war die Reise nach Locarno Wert.  

Der Solitär: Filmische Wucht aus den Philippinen.

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