Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist in der Schweiz «alarmierend» weit verbreitet. Dies berichten Mediziner der Universität, des Kinderspitals und des Unispitals Zürich aufgrund einer neuen Studie. Die Betroffenen verschweigen der Studie zufolge die Missbräuche häufig.
Am häufigsten findet sexuelle Belästigung heute via Internet statt, wie die Universität Zürich am Dienstag mitteilte. Schwerere Formen von Missbräuchen hätten im Vergleich zu einer Studie von vor zehn Jahren nicht zu-, aber auch nicht abgenommen. Was die Forschenden überraschte: Die Mehrheit der Opfer wird von jugendlichen Tätern missbraucht, die sie bereits kennen.
Diese Schlüsse ziehen die Forscher aus einer repräsentativen Befragung von mehr als 6000 Schweizer Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse. Demnach waren zwei von fünf Mädchen und einer von sechs Jungen schon einmal Opfer irgendeiner Form von sexueller Belästigung oder sexuellem Missbrauch, wie die Forscher im «Journal of Adolescent Health» schreiben.
Beide Geschlechter nannten die sexuelle Belästigung via Internet am häufigsten – fast jedes dritte Mädchen und jeder zehnte Junge hat diese zumindest einmal erlebt. Es folgte die verbale sexuelle Belästigung, worunter auch jene via E-Mail oder SMS fällt.
Gegen den eigenen Willen geküsst oder berührt wurden beinahe 12 Prozent der befragten Mädchen und vier Prozent der Jungen. 2,5 Prozent der Mädchen haben bereits einen sexuellen Missbrauch mit Penetration (vaginal, oral, anal oder anderes) erlebt, bei den Jungen waren es 0,6 Prozent.
Keine Abnahme in 10 Jahren
Damit ist die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch mit Körperkontakt seit zehn Jahren praktisch unverändert. Dies zeigt der Vergleich mit den Ergebnissen einer früheren Schweizer Studie, die zwischen 1995 und 1996 in Genf mit einer ähnlichen Altersgruppe und vergleichbaren Fragen durchgeführt worden ist.
Deutlich häufiger als früher sei sexueller Missbrauch ohne Körperkontakt, was laut den Forschern vermutlich auf Belästigungen via Internet, E-Mail oder SMS zurückzuführen ist. Diese Art von sexuellem Missbrauch sei damals nicht erhoben worden.
Die Studie zeige, dass neue Jugendrisiken wie «Sexting» und «Grooming» nach Prävention und Aufklärung verlangten, erklärte die Stiftung Pro Juventute in einer Stellungnahme. Pro Juventute führt derzeit eine Kampagne zum Thema «Sexting» durch und bietet Betroffenen Hilfe über die Notrufnummer 147.
Täter sind andere Jugendliche
Was den Forschenden besonders aufgefallen ist: Die Täter sind zumeist andere Jugendliche. Von Tätern unter 18 Jahren berichtete mehr als die Hälfte der weiblichen und mehr als 70 Prozent der männlichen Betroffenen. Zudem kannten die meisten Opfer körperlichen Missbrauchs die Täter – es waren zum Beispiel Partner, Kollegen oder Bekannte.
Möglicherweise seien Jugendliche heute generell gewalttätiger untereinander, erklärte Erstautorin Meichun Mohler-Kuo vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich der Nachrichtenagentur sda. Eine Erklärung könne sein, dass die jungen Leute heute schon früh Gewaltdarstellungen und Pornographie über Medien und Internet ausgesetzt sind.
«Unsere Resultate unterscheiden sich auch deutlich von offiziellen Polizeiberichten, wonach Täter am häufigsten erwachsene, männliche Verwandte sind», erklärte Studienleiter Ulrich Schnyder von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Unispital Zürich, in der Mitteilung. Dies deute darauf hin, dass diese Missbräuche häufig nicht gemeldet würden.
Opfer schweigen
Tatsächlich vertraute sich nur die Hälfte der weiblichen und gar nur ein Drittel der männlichen Opfer jemandem an – bei schweren sexuellen Missbräuchen sogar noch weniger. Ansprechpartner waren meistens Kolleginnen und Kollegen, nur 20 Prozent der Opfer sprachen mit ihrer Familie, 10 Prozent mit der Polizei.
«Im Vergleich zu ähnlichen Studien aus anderen Ländern sind die Zahlen der Schweizer Studie bezüglich Offenlegung sehr tief», sagte Schnyder. Dies erschwere rechtzeitige Interventionen. Frühere Studien zeigen, dass sexueller Kindesmissbrauch bei den Opfern das Risiko für späteres Risikoverhalten sowie psychische und körperliche Erkrankungen erhöht.