Shanghai Shimen Road

Den Historischen Ereignissen auf den Hauptplätzen gehen jene auf den Seitenstrassen voraus. Der Junge Xiao Li wohnt beim Grossvater. Seine Mutter lebt in Amerika. Seine unangepasste Schulfreundin himmelt ihn weben seines unorthodoxen Denkens an. Er verliebt sich – in die Nachbarstochter. Sie führt ein leichtes Leben: Cola, Disco und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie demonstriert […]

Den Historischen Ereignissen auf den Hauptplätzen gehen jene auf den Seitenstrassen voraus.

Der Junge Xiao Li wohnt beim Grossvater. Seine Mutter lebt in Amerika. Seine unangepasste Schulfreundin himmelt ihn weben seines unorthodoxen Denkens an. Er verliebt sich – in die Nachbarstochter. Sie führt ein leichtes Leben: Cola, Disco und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie demonstriert nicht mit den Studenten. Sie tanzt, nimmt Drogen und verkauft sich gegen Geld.

Es ist ein Clichéereiches Bild von Jugend jener Zeit, das uns der chinesische Regisseur Haolun Shu zumutet. Und doch gelingt es ihm, das Objektiv auf eine kleine Seitenstrasse Shanghais gerichtet, eine historische Entwicklung einzufangen: Xiao Lis Vater ist vor Jahren als Dissident im Gefängnis gestorben. Trotzdem weiss der Grossvater, was zu tun ist, als es auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum Aufmarsch der Truppen kommt: Er verbrennt die letzten Fotos des Sohnes. Er schickt den Enkel nach Amerika.

Shu erzählt die Jugend seines Helden Xiao Li, indem er ihn sich auf den grossen Fotografen Cartier-Bresson berufen lässt: Xiao will fotografieren wie sein Vorbild. Mit dokumentaristischer Genauigkeit den bedeutenden Augenblick einfangen. Ebenso versucht Shu den Film zu erzählen: Er folgt dem Leben im Wohnblock, den Gesprächen in der Gemeinschaftsküche, den Auseinandersetzungen im Teeraum, den Ereignissen im Schlafraum mit offener Linse. Wie zufällig werden Bildmomente eingefangen und doch fügen sich aus Teilen der Eindruck des Ganzen. 

Shu beweist, wie diffizil die Suche nach einer Rolle für den politischen Film im China nach wie vor ist. Als Dokumentarist hat Shu vor allem eines gelernt: Brilliant zu fotografieren. Ebenso wohltuend ist seine Art zu erzählen. Er lässt die Dinge für sich selber sprechen. Er lässt uns selber eine Meinung dazu entwickeln. So ziehen sie an uns vorbei wie in einem Fotoalbum: Der „Doublethinker“ (wie Orwell es genannt hätte). Der Linientreue. Der Lauscher. Die Dissidentin. Die Prostituierte. Der Pubertierende. Sie alle stehen der Wirklichkeit Modell. Selbst die Flucht des Sohnes zum Schluss ist nur eine Momentaufnahme: In Wirklichkeit ist Haolon Shu wieder nach China zurückgekehrt. Um diesen Film zu machen.

 

 

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