Die Nerven sind blank gelegen am dritten Tag der Verhandlung über ein neues Strafmass im Fall Oscar Pistorius. Unter Tränen lief der ehemalige Spitzensportler durch den Gerichtssaal – ohne seine Beinprothesen.
Um die Verletzlichkeit seines Mandaten zu zeigen, hatte Verteidiger Barry Roux den unterhalb der Knie amputierten Pistorius am Mittwoch im südafrikanischen Pretoria dazu aufgefordert. Der 29-Jährige habe seine damalige Freundin Reeva Steenkamp aus Angst um sein Leben erschossen, sagte Roux in seinem Schlussplädoyer. Staatsanwalt Gerry Nel forderte mindestens 15 Jahre Haft für Pistorius.
Der frühere Paralympics-Star hatte am Valentinstag 2013 seine damalige Freundin Reeva Steenkamp erschossen. Er war in erster Instanz wegen fahrlässiger Tötung zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.
Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein und erzielte Ende 2015 in zweiter Instanz eine Verurteilung wegen Mordes. Das Gericht in Pretoria unter Vorsitz von Richterin Thokozile Masipa will am 6. Juli über ein neues Strafmass für Pistorius befinden.
«Er hatte richtig Angst»
Pistorius hatte Steenkamp mit vier Schüssen durch die geschlossene Toilettentür in seinem Haus erschossen und ausgesagt, er habe dahinter Einbrecher befürchtet. «Er hatte richtig Angst», sagte Roux und wies auf die Hilflosigkeit seines Mandanten hin.
Schliesslich legte Pistorius unter Tränen seine Prothesen ab und lief auf seinen Beinstümpfen durch den Gerichtssaal. Dabei musste der Südafrikaner, der als Sprinter bei den Paralympics mehrere Goldmedaillen gewann, gestützt werden und sich an den Holzbänken im Saal festhalten.
«Es ist drei Uhr morgens, es ist dunkel, er ist auf seinen Stümpfen», schilderte Roux die Situation, in der Pistorius am Valentinstag 2013 zu seiner Waffe gegriffen und seine Freundin vom Schlafzimmer aus durch die geschlossene Toilettentür erschossen hatte. «Sein Gleichgewicht ist ernsthaft beeinträchtigt und … er wäre nicht in der Lage, sich zu verteidigen.»
«Der Beschuldigte ist für den Rest seines Lebens bestraft», sagte Roux. Er könne etwa seine Sportkarriere nicht weiterverfolgen und habe finanziell und sozial für das Verbrechen gezahlt. «Er zahlt seit dem Moment, als er geschossen hat.» Pistorius sei ein «gebrochener Mann». Der Verteidiger betonte, Pistorius wolle wie ein ganz normaler Bürger behandelt werden.
Staatsanwalt Nel erklärte hingegen, dass der tatsächlich «gebrochene Mann» der Vater der getöteten Reeva Steenkamp sei. Barry Steenkamp hatte am Dienstag in einer emotionalen Aussage über den Verlust seiner Tochter gesprochen. Weinend erklärte er, dass er sich mit Insulinspritzen in Bauch und Arme gestochen habe, um den Schmerz seiner Tochter in ihren letzten Minuten nachzufühlen. «Da war keine Wut, da war kein Hass – da war nur ein gebrochener Vater», sagte Nel.
Cousine: Reeva liebte Pistorius nicht
Barry Steenkamp sass mit seiner Familie am Mittwoch schweigend im Publikum. Reeva Steenkamps Cousine Kim Martin sagte aus, dass Reeva Pistorius nie geliebt habe. Sie erzählte ausserdem, wie der Tod ihrer Cousine das Familienleben verstört habe.
«Am Valentinstag ist es am schlimmsten», sagte sie. Auch an anderen Feiertagen müsse die Familie immer wieder an Reeva denken. «Wir wollen aber nicht, dass jeder besondere Anlass wie eine Beerdigung ist.»
Kim Martin sagte vor dem Gericht zudem, sie glaube, dass Pistorius in dem Prozess gelogen habe. «Alles, was wir wollten, ist die Wahrheit», sagte Martin. «Aber wir haben sie nicht bekommen, Oscar hat seine Version so oft geändert».