«Small Talk»: Theater auf den Barrikaden

Das Konversations-Stück «Small Talk» erzählt die Geschichte von Justine, die eines nicht kann: Konversation. Bilder- und wortreiche Premiere im «Théâte du Peuple» in Bussang – mit einer Protestnote. Vor der Bühne der Protest Kaum hat die Aufführung begonnen, scheint sie mit einem Paukenschlag auch schon wieder am Ende: Das Theater-Ensemble des  «Théâtre du Peuple» tritt […]

«Small Talk»: Lindsay Ginepri und Sébastien Amblard im Wald der Gefühle

Das Konversations-Stück «Small Talk» erzählt die Geschichte von Justine, die eines nicht kann: Konversation. Bilder- und wortreiche Premiere im «Théâte du Peuple» in Bussang – mit einer Protestnote.

Vor der Bühne der Protest

Kaum hat die Aufführung begonnen, scheint sie mit einem Paukenschlag auch schon wieder am Ende: Das Theater-Ensemble des  «Théâtre du Peuple» tritt geschlossen vor den Vorhang. Alle Aushilfen und Teilzeitmitarbeiterinnen sind mit weissen Kreuzen gezeichnet. Es ist eine «Manifestation des Intermittents!». Die Teilzeitangestellten des Theaters machen auf die geltenden Verordnungen aufmerksam, die in Frankreich die Arbeitslosen im Kultur-Sektor faktisch zu Rechtlosen machen.

Davon sind die Mitarbeiter der Film- und Eventbranche ebenso betroffen wie Theaterleute. Die Kulturschaffenden sollen durch diese Verordnungen de facto aus der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen werden. Den Künstlern mit ihren Teilzeitanstellungen wird zugemutet, was kein Peugot-Arbeiter, der vom Konzern auf Kurzarbeit gesetzt wird, zu gewährtigen hat: Nur lückenlos angestellte Kulturschaffende kommen in den Kreis der Versicherten. Gerade dies ist aber für saisonal wirkende Theatertechniker und Theaterschaffende unmöglich.

Dann geht der Theater-Nachmittag dennoch weiter: Das Volkstheater spielt eine Uraufführung. Wie seit 119 Jahren. Zum Schluss feiert das Publikum sein Theater mit stehenden Ovationen. Der Applaus gilt einer tief in der Region verankerten Institution. Nächstes Jahr will das «Théâtre du Peuple» in den Vogesen sein 120-jähriges Jubiläum feiern. Schon das diesjährige Programm macht neugierig:

Verbündete vom anderen Ende der frankophonen Welt 

Die Kanadierin Carole Fréchette ist in diesem Jahr Gast in Bussang. Sie ist seit «Die sieben Tage des Simon Labrosse» im deutschsprachigen Theater eine bekannte Grösse: Am Deutschen Theater in Berlin läuft ihr «Ich denke an Yu» mit grossem Erfolg. Jetzt hat sie für eines der schillerndsten Volkstheater in Frankreich, dem «Théâtre du Peuple» in Bussang, ein Stück geschrieben, das am Wochenende in den Vogesen Première feierte. «Small Talk» ist gleich mehrfach einen Ausflug wert:

Das Konversations-Stück erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ausgerechnet eines nicht kann: Konversation. Wo findet sie bloss die Worte? Die kandadische Autorin Carole Fréchette findet sie für sie: Sie hat schon durch den franko-englischen Sprachmix ein feines Ohr für Sprechakte. Sie lockt uns mit Justine in einen heiteren Sprachenabend und mitten in einen fordernden Small Talk.

Fréchette baut aus der Geschichte der einsamen Justine ein raffiniertes Sprachspiel. Im leichten Volkstheaterton erklimmt sie die sprachlichen Höhen des Pathos. Mit leichter Hand führt sie durch eine Theaterwelt, die gern mal auch etwas verstaubt wirkt: Sie entwickelt einen Lobgesang darauf, was Sprache zwischen Menschen auch kann: Leben retten. Leben ermöglichen. Leben verschönern.

Wenn Justine zum Schluss nicht nur ihr eigenes Leben rettet, haben wir mit eine Reise durch die Welten der Sprache gemacht, die uns ohne Untertitel lustvoll einiges an fremdsprachlicher Geduld abverlangt. Doch nit französischen Grundkenntnissen finden man in die breit bebilderte Geschichte.

Small Talk und Big Talk

Justine (einnehmend: Lindsay Ginepri) ist einsam. Wo andere plaudern und plappern steht die Fünfundzwanzigjährige abseits. Ihr fehlen die Worte. Sie meidet Menschen, die reden. Auch in ihrer Familie findet kaum jemand Worte: Justines Vater will am liebsten nur schweigen. Justines Mutter (eindrücklich: Violette Chauveau) leidet an Aphasie. Sie velwechsert Buschtaben. Sie bemützt walsche Örter. Sie verirrt sich andauern im Labyrinth ihrer Wortwahl. Justines Schwiegermutter versteht die Beiden auf ihre Art: Sie ist taubsstumm. Nur Justines Bruder ist eine hochqualifizierte Plaudertasche: Er hat es zum TV-Moderator gebracht.

Doch Justine fehlen die Worte – nicht nur dort, wo sie meist überflüssig scheinen: im Alltag. Im Small-Talk. Im Getratsch. Sie fehlen ihr auch in der Liebe. Dort, wo sie mit Wörtern gerne Brücken schaffen würde, zwischen sich und dem Menschen, dem sie gern nahe wäre.

Als Einzelkämpferin sucht sie sich einen Ausweg, findet ihn nicht im Gesangschor ihrer Mutter, nicht im meditativen Schweigen ihres Vaters. Erst die schön zugespitzte Familienaufstellung im Live-TV-Studio ihres Bruder bringt sie weiter – aber noch lange nicht an das Ziel: vorerst.   

Laien und Profis in einem Ensemble vereint

Es sind Szenen, wie die im TV-Studio, die die Regie-Sprache von Goethals deutlich zeigen. Er verlässt sich ganz auf einen präzisen Sprachstil. Er schafft Raum für ein traditionelles Erzähltheater. Er scheut nicht die Emotionen, und er lässt auch das stehen, was die Autorin blendend kann: Mit der Sprache spielen.

Dafür dürfen wir mit ihr an der verzweifelten Suche der Mutter nach dem richtigen Wort ebenso teilnehmen, wie an den wortkargen Betrachtungen des Vaters, dem zugespitzen Small-Talk der Schwägerin, wie dem etwas langatmigen Wortschwall des liebeskranken Timothée (leidenschaftlich: Sébastien Amblard).  Justine lernt von allen dazu. Langsam begreift sie, was es heisst, die Sprache als Weg aus der Isolation zu nutzen.

Der Regisseur und Theaterleiter Vincent Goethals hat das Stück über die gesellschaftlich Aphasie in der traditionellen Arbeitsweise des  «Théâte du Peuple» erarbeitet: Über das ganze Jahr hinweg vereint er mehrere Gruppen von Laien aus der Region in «Stages». Für drei Monate findet sich dann ein harter Kern von Schauspielern in Bussang ein, um die Aufführung mit den Laien zu erarbeiten. Goethals schafft mit dem Szenographen Jean-Pierre Demas die Räume, in dem das Ensemble sein Spiel entwickelt. Wie jedes Jahr bietet der Bühnenraum die obligate Überraschung zum Schluss.

Wenn auch die Laien in der Gestaltung der Chormitglieder an ihre Grenzen stossen: Ein Ausflug in die Vogesen lohnt allemal. Wer am morgen auf dem Ballon d’Alsace spazieren will, kann nach dem Mittagessen in einem der spannendsten Theaterräumen der Region Platz nehmen: Auf den Holzbänken des  «Théâtre du Peuple» in Bussang herrscht Freiluft-Athmosphäre unter dem riesigen Scheunendach und – der Geist der kulturellen «Résistence»: Ausgerechnet in einem Département, in dem der Front National alle Wahlrekorde schlägt, hat sich eine keine Insel erhalten, in der die Kultur mit der Mithilfe einer ganzen Region überlebt, auch wenn die Mittel bedroht sind. Seit hundertundneunzehn Jahren.

Das «Théâtre du Peuple» spielt mehere Veranstaltungen im Sommer bis Ende August:  Spielplan, Anfahrtsweg und weitere Angebote.

 

 

 

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