Die Filmtage Solothurn legen es derzeit an den Tag: Die Speisekarte des Schweizer Films ist reich an braver Hausmannskost. Einladend zubereitet, exquisit serviert, kulinarisch zunehmend ausgefeilt. Nur das Risiko fehlt.
In Solothurn durften wir es im Film sehen: Wenn einer an sich glaubt, ist das Ziel immer nah. Der Kartoffel-Bauer Ueli Maurer hat einen «Pommes-Frites-Automaten» entwickelt. Zehn Jahre seines Lebens und drei Millionen Franken hat er hierfür investiert. Aber nicht nur er liefert leicht Essbares.
Es ist ein guter Film-Jahrgang geworden in Solothurn: Sogar Bundesrat Alain Berset setzt sich gern zu Tisch bei den Filmern. Sein Ratschlag: «Selbst- und Weltentdeckung!» Das klingt, als müsste man vor Schwerverdaulichem nicht zurückschrecken. Aber was haben Filme schwer Verdauliches zu bieten, in die jahrelang Geld und Geist investiert worden ist?
Bester Spielfilm (je 25’000 CHF)
«Der Goalie bin ig», Sabine Boss
«Left Foot Right Foot», Germinal Roaux
«Les grandes ondes (à l’ouest)», Lionel Baier
«Mary Queen Of Scots», Thomas Imbach
«Traumland», Petra Volpe
Bester Dokumentarfilm (je 25’000 CHF)
«Der Imker», Mano Khalil
«L’escale», Kaveh Bakhtiari
«L’expérience Blocher», Jean-Stéphane Bron
«Neuland», Anna Thommen «Vaters Garten – die Liebe meiner Eltern», Peter Liechti
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Wir machten uns auf die Suche nach dem Film, der uns gedanklich herausfordert, formal begeistert und emotional vor den Kopf stösst. Wer die Speisekarte liest, darf einiges erwarten: Die Schweizer Film-Küche ist mit allen umliegenden Ländern im zunehmend fruchtbaren Austausch: Man lässt in Frankreich die beste Schauspielführerin entwickeln (toll, wie Delphine Lehericey die Mädchen von «Puppy Love» ihre Rollen ausreizen lässt), man holt italienische Commèdia in den Jura (Claudio Tonetti inszeniert verspieltem Lowbudget-Charme in «Win Win») und holt aus Deutschland die Spitzen-Schauspieler wieder ins Land (Stefan Kurt gleich zweimal brilliant, in «Lovely Louise» und «Grüningers Fall»).
Allegria Ticinese
Fangen wir im Tessin an. Zuständig für die Allegria, steuern die Tessiner eine hübsche Commedia von Mohammed Soudani bei. Ganz in der Tradition der südländischen Küche lädt man auf eine Spagetti all’«Oro Verde». Da stimmen die Zutaten perfekt. Eine Prise von Dario Fo’s Frechheit (man klaut Marihuana) mit Soldinis Sprachverliebtheit kurz angebraten, eine Handvoll Lausbubereien von Lattuada, klein geschnitten, das reicht für eine weichgekochte, traditionelle Mahlzeit nach bekanntem Muster: Laien planen einen Raub. Der Raub klappt. Fast. Wir brauchen nicht einmal leer zu schlucken, wenn gleich zwei Arbeitslose (gibts im Süden) in einem einzigen Schweizer Film auftauchen. Die Contorni sind gut gewürzt. Der Secondo entwickelt sich anschliessend rasant zu einem herrlich oberflächlichen Finale.
Ebenfalls Italianità verbreitet «Il venditore di medicine» – mit landestypisch, krimineller Energie. Hier keimt kurz Hoffnung auf, die Machenschaften der Pharma-Industrie könnten sich als schwer verdaulich erweisen: Tatsächlich verübt ein Promoter (Leonardo Nigro in einem eindrücklichen Kurzauftritt) Selbstmord: Doch dann erzählt sich die Intrige brav und vorhersehbar zu Ende. Ein Krimiabendessen.
Haute cuisine francophone
Die Welschschweiz profitiert wie immer von der Nähe zur Haute Cuisine. Von Nahe der französischen Grenze kommt denn auch das jurassische «Win Win». Hier serviert man «Tête de Moîne» zu Fondue chinoise: Grob gehobelt. Blumig arrangiert. Hier setzt man ganz auf Provinz. Sonderlinge – allen voran der Bürgermeister von Delémont haben eine brillante Idee: Unter Chinesinnen ist auch ein Prowinzling ein Riese: Also lädt man kurzerhand eine heimatlos gewordene chinesische Missenwahl ein. Bald finden die Missen Unterschlupf in der jurassischen Einsterne-Tourismusmetropole Delémont. Eine charmante Antwort auf das «Missenmassaker».
Herausragendes bietet uns aber das Welschland auch: Sorgfältig gemacht, nötig und unverzichtbar innovativ angerichtet ist gleich zweimal spannendes Junggemüse zu kosten: «Left Foot Right Foot» von Germinal Roaux ist eine in schwarz-weiss servierte Liebesgeschichte, die schon fast alles verrät, was Meisterschaft ankündigt: Ein brillantes Gefühl für Konflikte, fotografische Kompromisslosigkeit, schauspielerische Leichtigkeit und einen erbarmungslosen Blick in die Randgebiete der Gesellschaft.
Da ist nichts leicht verdaulich, und doch alles derart klug serviert, dass wir uns auch auf einen unerwarteten Tiefschlag einlassen. «Left Foot Right Foot» des Lausanners Germinal Roaux wird es an der Kinokasse nicht leicht haben – dafür zeigt da einer, dass die Schweizer Filme nicht nur besser werden, sondern auch immer mehr Risiko eingehen könnten.
Noch mehr Gefahr sucht «Puppy Love». Da schmeisst sich die Vierzehnjährige Diane in ein abenteuerliches Liebesleben.
Auf brillante Weise wird die Geschichte einer Mädchenfreundschaft aufgerollt; unprätentiös, authentisch und frech. Hier wird «Fucking Åmål» weitererzählt, bis an die Schmerzgrenze. Da wird mit voller Lebenslust angerichtet. Serviert wird eine freizügige Dreierbeziehung. Die Beziehungsängste werden nicht vorschnell auf Fast-Food getrimmt, sondern krude stehen gelassen, eine ganz neue Sehnsucht nach Nähe formuliert. Zeitnah, treffsicher, verstörend. Und was uns noch mehr freut: Dass «Puppy Love» nicht eine Einzelgängerin ist: Sie hat mit «Sitting Next to Zoe» bereits einen kleinen Trend ausgemacht: Junge Frauen haben sich mit ihren Filmen auf die Suche nach den erotischen Verstörungen junger Frauen gemacht.
Viele Förderköche verderben den Brei
Die Deutschschweizer treten hingegen ernsthafter auf. Bis auf den herrlich schrillen Abfallthriller «Recycling Lilly» übt man sich in gepflegter Ernsthaftigkeit – oder besser Betroffenheit: Fernsehköchin Sabine Boss richtet ihr «Dr Goali bin ig» streng nach Kochbuch an, ohne Risiko. Ein liebevolles Röschtigericht nach Grossmutterart. Das wunderbare Berndeutsch-Brevier von Pedro Lenz wird vor allem mit dessen Sprache überbacken. Doch wo der Goalie von Lenz Ecken und Kanten hat, wirkt auf dieser Bernerplatte vieles irgendwie weichgekocht. Der Duft der Liebesgeschichte weht uns aus der Küche schon um die Nase, ehe sie überhaupt serviert wird. Und ist die Hauptspeise erst auf dem Teller, ist sie schon kalt.
Dennoch erfreuen wir uns an wunderbaren Sprachblüten. So durchgängig nach Berner Röschti duftend haben wir lange keinen Deutschschweizer Film mehr gesehen. Man sieht den Goalie einfach gern «grüble». Und wenn auch die Wirklichkeit zunehmend «strüber chunnt», «de braveds de» zum Schluss doch noch, wenn auch die Musik von Peter von Siebenthal uns davon erlöst, dass jede Minute Film immer zugetextet werden muss.
Knorriger «Goalie»
Marcel Signer als Goalie trägt die Last der Fabel bewundernswert knorrig, und sein Goalie hat in Michael Neuenschwander auch einen gefährlichen Gegenspieler. Sonja Riesen darf sogar beweisen, dass Schauspieler auch mehr können als Text aufsagen, womit sie ihre Figuren andauernd selber erklären müssen.
So bleibt der «Goalie» ausgewogen risikolos. Gerne hätte man der Regisseurin Sabine Boss weniger Kochbuchprüfer und Fördergremien an den Herd gewünscht. Scheinbar geht das in der Schweiz noch nicht anders. Aus kleinen anarchistischen Pfefferperlen werden rasch Stäubchen auf Tellergerichten. Was bleibt da einer wagemutigen Köchin anderes, wenn die Geldgeber dauernd kosten wollen, um nicht Kosten tragen zu müssen, wenns zu sperrig wird?
So entstehen Fertigmenus, um Fördergelder zu kriegen. So bilden die Kochbücher letztlich Fördergewohnheiten ab: Sozialkritisch sollen die Menus sein, in ausgewogenen Dosen, aufwühlend aber erträglich, allseitig verständlich, jedoch auch ein bisschen experimentell. Auf die Gäste am Tisch wirkt das eher wie Resten von gestern – in der Mikrowelle aufgewärmt.
«Viktoria»: ein Betroffenheitsgulasch:
Richtig fad wirkt die schweizerisch-kulinarische Bravheit bei «Viktoria – A Tale of Grace and Greed». Da wird uns eine ungarisch-österreichische Allerwelts-Randständigen-Geschichte als eine Schweizerische aufgewärmt. In wohlverdaulichen Häppchen wird uns ein wenig Betroffenheitsgulasch zugemutet. Dazu wird Selbstgebrannter gereicht, zum blutigen Zigeunerschinken. Am Schluss kann sich jedermann – mit Betonung auf Mann – zurücklehnen, weil die Geschichte mitten in Zürich ja fast unter lauter Ungarn spielt: Zu sehen sind die Schweizer Freier nur von Ferne, im Anschnitt, als wäre das ganze doch keine Geschichte, die sich unter unseren Augen abspielt. Stattdessen werden die Klischees brav und nahtlos aneinandergereiht.
«Traumland»: ein Höhepunkt, der fast unterging
Unverständlich an der Speisekarte in Solothurn blieb, warum «Traumland» von Petra Volpe im «Panorama der Schweizer Spielfilme» und nicht etwa im Wettbewerb lief: Da wäre ein Gegenstück zum beliebigen Sozialsoufflé zu sehen. «Traumland» entlarvt das Zürcher Geschnetzelte als eine durchaus schweizerische Tradition. Käufliche Liebe geht in unserem Land nicht nur mit der grossen Einkommensschere einher. Käufliche Liebe soll in unserem Land auch immer netter angeboten werden.
In «Traumland» wird die Kamera auf die Zürcher Prostituiton und auf den Schweizer Freier gerichtet. Der dampfgegarte Käufer der Liebe (von André Jung umwerfend gespielt) ist das schwer verdauliche Zentrum von Einsamkeit in diesem Film.
Die junge Regisseurin Volpe verknüpft geschickt vier Menugänge, die weit strenger riechen, als die ewig bekannten Zuhälter-Klischees, die das «Viktoria»-Menu bemüht. Volpe braucht, um die Brutalität des Geschäftes zu entlarven, weniger Schlachtszenen, sondern ein denkwürdiges, fein gepflegtes Weihnachtsessen. Plötzlich sitzt die Prostituierte am Schweizer Tisch. Wie sie dann mitten im Essen gemobbt wird, geschieht nett und ist dennoch brutaler, als jede Zuhälterfaust. Die Täter sind unter uns.
Hohe Kochkunst an den Filmtagen 2014
Insgesamt zeigt der diesjährige Jahrgang in Solothurn hohe Kochkunst, ja, sogar einige Spitzenköchinnen am Herd. Es macht Spass zu sehen, wie die Filmproduktionen immer leichter Grenzen überschreiten, um mit umliegenden Kulturen zusammenspannen. Das lässt uns hoffen, dass demnächst nicht nur geografische Grenzen überschritten werden.
Schweizer Filmer finden aber nur langsam den Mut, das Aufregende, Erschreckende, das sie in den Dokumentarfilmen so treffsicher aufspüren, auch in der Fiktion zu behaupten: Stattdessen bieten sie hübsche Formstudien, wie «Das merkwürdige Kätzchen» oder solides Meisterhandwerk, wie die «Schwarzen Brüder», die uns – eindrücklich präsentiert – aus historischer Ferne erreichen.
Selbst die bestechende «Akte Grüninger», eine überfällige Aufarbeitung der Schweizer Geschichte, wäre nicht ein notwendiger Film – könnte er nicht bald wieder traurige Aktualität erlangen. «Die Akte Grüninger» bewegt sich, wie vieles, was Schweiz Film ausmacht, in der risikofreien Zone, im Unterschied zum Vorläufer «Grüningers Fall» von Dindo. Er beweist aber auch, wie souverän das Schweizer Filmschaffen in der Zwischenzeit Qualität beherrscht.