Was von der Hilfe übrig bleibt

Vor bald zehn Jahren verwüstete ein Tsunami die Küsten Süd- und Südostasiens. Hunderttausende starben, Millionen verloren ihr Hab und Gut. Hilfe aus aller Welt kam rasch, doch nicht alle Projekte waren erfolgreich, wie ein Besuch an der Koromandelküste in Südindien zeigt.

(Bild: Heiner Hiltermann)

Vor bald zehn Jahren verwüstete ein Tsunami die Küsten Süd- und Südostasiens. Hunderttausende starben, Millionen verloren ihr Hab und Gut. Hilfe aus aller Welt kam rasch, doch nicht alle Projekte waren erfolgreich, wie ein Besuch an der Koromandelküste in Südindien zeigt.

Adhi Laxmi strahlt. Sie ist glücklich. Vor bald sieben Jahren ist sie mit ihrer Familie in ihr neues Haus gezogen. Und hat es bis heute nicht bereut. Hier fühlt sie sich sicher, kann notfalls auf der Dachterrasse Zuflucht suchen. Ihr altes Haus hat der Tsunami im Dezember 2004 zerstört, als 230 000 Menschen starben und 1,7 Millionen Küstenbewohner rund um den Indischen Ozean obdachlos wurden. «Plötzlich war die Welle da», erinnert sie sich, eine Wand aus Wasser, Schlamm, Steinen und Baumstämmen, die der Tsunami auf dem Weg an die Küste Tamil Nadus aufgewühlt und losgerissen hatte.

Adhi Laxmi überlebte, aber ihren jüngsten Sohn, damals vier Jahre alt, hat sie nicht festhalten können, er ist in den Fluten ums Leben gekommen. Die beiden älteren Kinder, heute 16 und 18 Jahre alt, waren in der Schule in Sicherheit. Ihr Mann Soundaragen war als Fischer mit dem Boot unterwegs. Draussen auf dem Meer hat er die Monsterwelle gar nicht mitbekommen. Erst als die Fischer zurückkehrten, sahen sie die Katastrophe: Der halbe Ort war zerstört, allein in Tharangambadi, der Heimat von Adhi Laxmi und Soudaragen, starben 324 Menschen, 150 davon kleine Kinder.

130 Quadratmeter für ein neues Haus

Im alten Dorf stehen heute fast nur noch Ruinen. Der Wind heult durch Fensterhöhlen, Ziegelschutt bedeckt den Boden. Das Meer ist wild hier, die Wellen laufen hoch auf den kurzen Strand und lecken schon an den stehen gebliebenen Fundamenten, obwohl nur ein kleines Sturmtief durchzieht. Wie mag es hier erst zugehen, wenn ein Taifun tobt? Vereinzelt sind ein paar der Mauerreste mit blauen Plastikplanen abgedeckt. Die Fischer lagern ihre Netze hier. Eine Frau hockt im Schatten und blickt auf die Brandung. Einige ältere Dorfbewohner kommen immer wieder hierher, suchen auf dem vertrauten Boden die Erinnerung an die umgekommenen Angehörigen. Leben dürfen sie hier nicht, das war eine Bedingung des indischen Bundesstaates Tamil Nadu, zu dem Tharangambadi gehört.

200 Meter von der Küste entfernt hat der Bundesstaat den Menschen ein neues Siedlungsgelände zur Verfügung gestellt, rund 130 Quadratmeter für jedes neue Haus. Und als mit dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) ein Geldgeber für die Neubauten gefunden war, haben sich die Männer und Frauen von Tharangambadi gleich an die Arbeit gemacht, erinnert sich Natarajan. Er hat damals für Initiatives in Development Support (IIDS) die Arbeiten mitkoordiniert. Die Nichtregierungsorganisation ist seit Jahrzehnten Partner des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) bei Hilfsaktionen in Indien.

Die gewachsenen Strukturen blieben nach dem Wiederaufbau erhalten.

«Wir haben Glück gehabt», sagt Natarajan. Denn der Panchayadar, der Ortsvorsteher von Tharangambadi, war den Vorstellungen der erfahrenen Helfer zugänglich. Die Menschen wurden sofort in die Planungen einbezogen. Bereits zwei Jahre vor Baubeginn wurden Bäume gepflanzt, die dann beim Bezug der Häuser schon ersten Schatten spenden konnten. Am wichtigsten aber war, sagt Natarajan, dass die Nachbarschaften des zerstörten Ortes für die neue Siedlung übernommen wurden. «Die gewachsenen, vertrauten Strukturen blieben so erhalten», sagt der Sozialmanager.

Kinder spielen auf der Strasse, Frauen sitzen im Schatten und unterhalten sich, eine alte Frau breitet auf dem Teer Fisch zum Trocknen aus. Der Duft hängt schwer in der schwülwarmen Luft. Die Strasse ist Teil des Lebensraums. Dass der Wiederaufbau in Tharangambadi gelungen ist, sieht man in jeder Gasse. Überall ist der Raum genutzt worden, aus Bambus und Palmwedeln sind kleine Anbauten zum Haus hinzugefügt worden. Viele Häuser sind türkis, rosa, lila, blau und grün gestrichen. Und Palmen und Bananen wachsen schnell. Tharangambadi unterscheidet sich mittlerweile nur noch in einem Punkt von anderen Tamilendörfern im Südosten Indiens: Der Ort ist nahezu müllfrei. Das will etwas heissen in einem Land, in dem auch heute noch fast jeder einfach achtlos in die Landschaft wirft, was er nicht mehr braucht.

Auch für die Sauberkeit ist das SRK verantwortlich. Unter Schweizer Anleitung haben die Bürger Tharangambadis eine eigene Abfallentsorgung aufgebaut, eine Frau leitet sie. Biomüll, Papier und Plastik werden getrennt gesammelt und wiederverwertet. 30 Rupien pro Monat lässt sich jeder Haushalt die Sauberkeit kosten. «Es hat etwas Überzeugungsarbeit gebraucht», sagt Natarajan lächelnd. Der Staat subventioniert die Aktivitäten und vermarktet Tharangambadi mittlerweile als Vorzeigeprojekt.

Himmelweiter Unterschied

In Tharangambadi machen die Menschen einen glücklichen Eindruck, in Kilingalmedu und Karaikalmedu gleich nebenan sind sie zufrieden. Manchmal liegt zwischen Glück und Zufriedenheit ein himmelweiter Unterschied.

Drei alte Frauen hocken auf der Strasse in der neuen Siedlung von Kilingalmedu. Sie sind froh, hierher gezogen zu sein. «Im alten Ort hätten wir immer Angst vor der Welle», sagt Anjalaiammal. «Hier fühlen wir uns sicher.» Auch Kuppammal, ein paar Häuser weiter, hat Angst vor der Welle. Die heute 80-Jährige hat den Tsunami 2004 überlebt und auch von ihren sieben Kindern und 28 Enkeln ist niemand in der Welle umgekommen. Aber sie hat viele Kinder sterben sehen. Bei der Erinnerung trübt sich ihre Miene. Aber eigentlich ist der Tsunami Vergangenheit. «Wir reden nicht mehr darüber», sagt Kuppammal. Sie ist zufrieden mit dem, was der Bundesstaat Pondicherry und das SRK für sie geleistet haben. Ihr Haus hat wie alle anderen zwei Räume, eine Küche, Bad und Toilette und eine Dachterrasse. Das ist nicht schlecht, aber «ein bisschen mehr Platz könnten wir schon gebrauchen», sagt Kuppammal.

Vor allem um ihre Häuser herum haben die Menschen in den drei von Pondicherry verwalteten SRK-Dörfern für die Tsunami-Opfer wenig Raum für Anbauten. Der Bundesstaat hat nur 65 Quadratmeter pro Haus zur Verfügung gestellt. «Wir würden unsere Häuser gerne mehr ausbauen», sagt Manimehalai, die junge Nachbarin von Kuppammal. «Wir leben nicht schlecht hier, aber die Regierung sollte mehr Raum zur Verfügung stellen. Wenn unsere Kinder gross sind, müssen sie wegziehen.»

Viele der neuen Häuser stehen leer und wurden nie bezogen.

In den Pondicherry-Dörfern ist es dem SRK zudem nicht gelungen, den jeweiligen Panchayadar von erhaltenswerten Sozialstrukturen zu überzeugen. «Hier wurden die Häuser nach einer Liste vergeben», sagt Natarajan, «und die haben die Verantwortlichen nach eigenem Gutdünken aufgestellt.» Die Folge: Gut funktionierende, vertraute, lange Jahre bestehende Nachbarschaften wurden auseinandergerissen, neue geschaffen. «Das war nicht immer unproblematisch», formuliert Natarajan vorsichtig.

Die Unterschiede der Pondicherry-Dörfer zu Tharangambadi sind augenfällig: Bambusschöpfe sind kaum zu sehen, Farbe an den Hauswänden ist selten. Vor allem: Viele Häuser stehen leer, offensichtlich sind sie nie bezogen worden. Der Putz bröckelt von den Wänden, Fensterscheiben sind zerbrochen.

Pondicherry hat im Gegensatz zu Tamil Nadu nicht darauf bestanden, dass das alte, zerstörte Dorf verlassen wird. Und während der Bauarbeiten die Bedingungen geändert: «Die Tatsache, dass in Karaikal die Regierung die Gesetzgebung aufgehoben hat, dass erst 500 Meter vom Meeresufer entfernt gewohnt werden darf, ist sicher entscheidend für den höheren Leerstand in den Karaikaldörfern», erklärt Babette Pfander, die das Projekt von Bern aus für das SRK koordiniert hat. «Dieser Politikwechsel wurde von Infrastrukturverbesserungen in den alten Siedlungen begleitet, während die Regierung in den neuen Gebieten nur aufgrund von grossem Druck unsererseits vorwärtsmachte mit Wasser- und Stromversorgung und Drainage entlang der Strassen.»

Keine Klausel, keine Neuverhandlung

Natürlich hätte das SRK den Bau der Häuser stoppen können. Doch dann wäre die Sicherheitszahlung verloren gewesen, die die Regierung von Pondicherry verlangt hatte. «Wir hätten einen enormen Verlust gemacht, wenn wir die Häuserzahl reduziert hätten», so Babette Pfander. Das SRK hat daraus gelernt: «Heute würden wir eine Klausel integrieren, die Neuverhandlungen erlaubt, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern oder die Regierung einen Kurswechsel vornimmt.» So hat das SRK lediglich darauf gedrängt, die leerstehenden Häuser an andere Familien zu vergeben; die Nachfrage war da. Doch man hätte die Besitzer enteignen müssen – was die Pondicherry-Regierung wegen «Negativpropaganda» abgelehnt hat, so Babette Pfander. Zudem waren auch die Dorfgemeinschaften dagegen, weil die einzugswilligen Familien nicht der gleichen Kaste angehörten wie die potenziellen Nachbarn.

So sind viele Menschen im alten Teil von Kilingalmedu und Karaikalmedu geblieben. Das alte Haus wurde renoviert, hier gibt es Farbe an den Wänden, hier ist Platz für individuelle Anbauten. Dass das Meer ganz nah ist und jederzeit eine neue Welle droht, nehmen die Menschen hin. «Wenn wir vor 2004 gefragt wurden, ob wir keine Angst vor dem Meer hätten, wussten wir gar nicht, was gemeint war», sagt eine junge Frau. «Seit dem Tsunami wissen wir es. Jetzt haben auch wir Angst.» Sie ist weggezogen aus Kilingalmedu, hat in der Hauptstadt Pondicherry ein neues Zuhause gefunden. Aber ihre Schwester ist geblieben im alten Ort. «Unser Haus hatte nur geringe Schäden, es wurde von anderen, näher am Strand liegenden geschützt», erzählt die Frau weiter, «aber überall lag Schlamm und Dreck.» Sie haben aufgeräumt und die Schäden repariert. «Es ist die vertraute Heimat», sagt sie. Ihre Schwester muss mit der Angst leben.

Was jenseits des eigenen Gartenzauns ist, interessiert die Leute nicht.

Auch in den Pondicherry-Dörfern stehen Abfallkörbe vor den Häusern, auch hier hat das SRK eine Abfall-Initiative gestartet. Aber es hapert noch ein bisschen, der Erfolg der Abfallinitiative ist nicht so augenfällig wie in Tharangambadi. «Es lohnt sich, die Menschen in die Planung einzubeziehen und nicht einfach von oben zu verordnen», sagt Natarajan. Vor den meisten Häusern ist es sauber, aber dort, wo die Strassen ineinander übergehen, liegt Müll wie überall in Indien. Was jenseits des eigenen Gartenzauns passiert, interessiert nicht, sagt Natarajan resigniert. Das Projekt ist seit Mitte 2013 abgeschlossen, die Menschen sind jetzt selbst verantwortlich. Natarajan hat in einem Weltbank-Projekt eine neue Aufgabe gefunden. Ein bisschen wehmütig scheint er schon, wenn er sieht, wie schnell Initiativen versickern können.

Das kann Adhi Laxmi nicht passieren. Auch wenn nicht alles nach Plan läuft, entmutigen lässt sie sich nicht. Vor sechs Jahren hat sie in ihrem Haus einen kleinen Shop aufgemacht, als Erste im Ort, und Bonbons, Chips und Seife verkauft und was die Menschen sonst noch in ihrem Alltag benötigen. Ihr Traum damals war, irgendwann einmal einen grossen Dorfladen zu besitzen. Den Traum hat sie begraben müssen. Andere Dorfbewohner haben sie schnell kopiert. «Jetzt gibt es in jeder Strasse einen kleinen Laden», klagt Adhi Laxmi. Das belebt das Dorf zusätzlich, aber «für mich ist das Geschäft härter geworden». Doch ans Aufgeben denkt sie nicht. Der kleine Laden rentiert noch immer.

Fabrik auf Eis gelegt

Das SRK hat in den Bezirken ­Karaikal (Pondicherry) und ­Nagarpattinam (Tamil Nadu) nicht nur den Aufbau neuer Siedlungen für die Tsunami-Opfer finanziert, sondern auch geholfen, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und ihre wirtschaftlichen Ressourcen zu stärken. Fischernetze und Aussenbordmotoren wurden verteilt und eine Bootswerft gebaut, um beschädigte Fiberglasboote reparieren zu können.

Zudem wurde geholfen, die Vermarktungs­bedingungen zu verbessern: Kühlfahrzeuge wurden angeschafft, so dass der Fang jetzt bis nach ­Tiruchirapalli, 200 Kilometer entfernt, verkauft werden kann. Eis ist die Voraussetzung, damit der Fisch möglichst lange frisch bleibt. 2007 finanzierte das SRK deshalb der South Indian Federation of Fishermen Societies (SIFFS) für rund 35 000 Franken eine eigene Eisproduktion. Das ist gründlich misslungen. Die Eisfabrik steht heute still.

«Bei der Planung war die Eisproduktion am Boden, als die Eisfabrik dann betriebsbereit war, hatte sich ein Konkurrent etabliert», ­erklärt Babette Pfander. Der Konkurrent muss gute Kontakte zu den Behörden gehabt haben: Der Strom fiel immer wieder mal aus, die Wasserqualität schwankte, ­erzählt Elongovan, der für den SRK-Partner IIDS (Initiatives in ­Development Support) in Karaikal tätig war. Die Fabrik musste die Produktion stoppen und konnte sich nicht im Markt etablieren. «Dadurch wurde sie für die Nutzer unattraktiv, denn im Fischfang muss man sich auf Eislieferungen zu ­angemessenen Preisen verlassen können», sagt Babette Pfander.

Möglicherweise ist aber auch ­bereits bei der Planung einiges schief gelaufen: Statt der gewohnten Eisplatten sollte die SRK-Fabrik kleine Eisröhren produzieren, in die sich die Fische besser verpacken liessen, erzählt Elongovan weiter. Doch die Röhren waren teurer und schmolzen schneller, bald wurden sie nicht mehr gekauft. Nun stehen die Kühlmaschinen still, die Fabrik liegt buchstäblich auf Eis. Was daraus wird, steht in den Sternen.

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