Das neue Parlament ist unsozialer. Vor allem die SP fürchtet die harte Sozialpolitik der stärkeren Mitte.
Jahrelang herrschte in der Schweizer Sozialpolitik Stillstand. Nach den Wahlen vom Wochenende könnte es mit den angestrebten Reformen nun aber endlich vorwärts gehen. Das jedenfalls hoffen überraschenderweise sowohl Martin Flügel, Präsident von Travail Suisse, als auch Thomas Daum, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. In seltener Einmütigkeit sehen sich beide als Gewinner des Wahlsonntags. «Die Fronten werden aufgeweicht. Das könnte neue Lösungen ermöglichen», sagt Daum. Und Gewerkschafter Flügel ergänzt: «Jetzt hoffe ich auf mehr Vernunft und weniger Ideologie in der Schweizer Sozialpolitik.» Eine «tragfähige Lösung» hält Flügel nun zum Beispiel beim Rentenalter für möglich. «Nötig wäre ein flexibles Modell, das sozial abgefedert ist.»Komplett anders die Einschätzung der Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Sie glaubt, dass soziale Anliegen im neuen Parlament einen noch schwereren Stand haben. «Die Grünliberalen betreiben eine klar bürgerliche Sozialpolitik», sagt sie.
Sie befürchtet deshalb, dass die Bürgerlichen in Zukunft ihre Anliegen mit Untersützung der Grünliberalen noch besser durchsetzen können, etwa das Rentenalter 65 für Frauen, ohne die damit jährlich eingesparten 800 Millionen Franken für ein flexibleres Rentenalter einzusetzen. Tatsächlich wollen BDP und GLP bei den Ausgaben sparen, keine neuen Schulden für AHV und die Invalidenversicherung, also eine Schuldenbremse einführen.
Die Rolle der Bevölkerung
Der Zürcher SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi teilt Schenkers Einschätzung. «BDP und Grünliberale sind uns mit ihren Positionen in der Sozialpolitik sehr nahe.» Er ist denn auch überzeugt, dass das Rentenalter 65 für Frauen im neu zusammengesetzten Parlament einen noch leichteren Stand haben wird. Trotzdem erwartet er nicht, dass die Bürgerlichen Sparmassnahmen im grossen Stil durchsetzen können. «Die Linke wird wie bisher gegen jede grössere Revision einer Sozialversicherung das Referendum ergreifen», sagt er. Und ein massiver Leistungssabbau bei den Sozialversicherungen, allen voran bei der AHV, wäre in einer Volksabstimmung chancenlos, das weiss auch Bortoluzzi.Spielt es also gar keine Rolle, wie das Parlament zusammengesetzt ist, weil am Ende sowieso immer das Volk entscheiden kann? SP-Nationalrätin Schenker winkt ab: «In einer Abstimmung kann die Bevölkerung einen Abbau von Leistungen nur noch ablehnen, aber die Reform nicht mitgestalten. Damit kommen wir keinen Schritt vorwärts.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26/10/11