Abschied von Schottland. In Carlisle soll die Wanderung weiter gehen. Zu zweit. Doch vorerst ist eine Pause angebracht.
Die Sonne kann ein tristes Nest wie Lockerbie doch immerhin ein bisschen freundlicher zeichnen. Nicht, dass mich auch nur das geringste in diesem Dorf oder Städtchen oder was auch immer gehalten hätte, aber etwas versöhnt zog ich an diesem frühlingshaften Samstagmorgen durch die gestern Abend so tristen Gassen und schliesslich davon. Wenige Meter ausserhalb des Dorfes ein wohltuender Wechsel in eine hellgrüne Landschaft, saftige Wiesen mit knöchelhohem Gras, die Buchen zeigten ihr Kleid in zartester Farbe. Die kleinen Steinhäuschen wirkten heimelig, in den Gärten werkten die Besitzer. Ein wehmütiger Abschied aus Schottland – topfeben hier.
Ja, ich spürte, ich hatte einen Ruhetag nötig, die Beine waren schwer. Hier, im Grenzbereich, wurde das Wandern mühsam. Nichts als schnelle Strassen, Zäune, Schienen. Ich hörte einen Bus kommen, stieg ein, wenige Gäste. Der Chauffeur kurvte in jedes erreichbare Dörfchen, nahm Passagiere auf und dann plötzlich: «The last Scottish House» und – ohne dass viel Raum für Nachdenklichkeit geblieben wäre – «Wellcome in England.»
Bald Garagen, Holiday Inn, Einkaufszentren, in welche die Engländer und – von drüben – auch die Schotten eilten.
Carlisle, eine malerische Stadt, jahrhundertelang immer wieder umkämpft, seit die Römer hier waren und den Hadrianswall quer über die britische Insel gezogen haben, zwischen den Engländern und den Schotten. Mal war es schottisch, mal englisch, auch die Wikinger haben hier gewütet – und das Resultat: überall Festungen, Kirchen, die wie Burgen aussehen – aber auch Ausfallstrassen mit hablichen Häusern aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert. In einem solchen, aus dem Jahre 1820, vollgestopft mit Nippes, habe ich ein B&B-Zimmer gebucht. Ich habe auf die Klingel gedrückt, der Herr des Hauses kam heraus und wir wurden uns schnell einig. Hier würde ich, würden wir heute übernachten.
Und der Rest war Schlendern, zuschauen, wie die Leute den frühlingshaften Samstag geniessen. Im malerischen Städtchen all die Shops, Läden und Einkaufshäuser anschauen. Man versteht die Leute hier besser, wenn sie reden, sie bewegen sich eleganter, wirken gepflegter, urbaner. Es hat viele Restaurants, auffallend die Zahl der italienischen. Ein Lachen überall, ein Schwatzen, ein Bummeln, ein schöner Samstag, ein fauler.
Und jetzt, da die Leute den Samstagsbummel in der Stadt beenden – einen Kaffee trinken, bald nähert sich der Zug mit Monika drin. Ich freue mich. Und sie? Bin ganz aufgeregt!
Der Zug fährt pünktlich ein, vier Wagen, alles sehr übersichtlich – doch sie ist nicht drin. Mein Gesicht zieht sich in beträchtliche Länge. And now?
Mein Handy läutet. Ich höre ihre Stimme, höre sie irgendwie doppelt – aus dem Handy und sonst noch irgendwoher. Sie sitzt auf einer Bank hinter mir, hat beobachtet, wie ich die Aussteigenden mustere, lacht mich an oder aus. Sie ist mit einem Zug früher von London her angekommen. Kleine Überraschungen halt. Ein schönes Wiedersehen. Grosser Rucksack.
Ein Glas zum Anstossen. Etwas gegen den Hunger. Wir haben uns viel zu erzählen. Es dünkt uns, wir hätten uns schon lange nicht mehr gesehen. Wir schlendern durch die Stadt, schauen sie an, suchen das B&B, wo ich das Zimmer reserviert und meinen Rucksack am Vormittag deponiert habe. Moni ist entzückt – wir wohnen in einem Puppenhaus.
(Carlisle, 11. Mai 2002)