Eine Handvoll Schweizer Olympia-Medaillen im Tennis wäre im besten Fall möglich gewesen. Die Absagen von Roger Federer und Belinda Bencic sorgen jedoch für eine völlig neue Ausgangslage.
Welche Erwartungen an die Schweizer Tennis-Stars sind nun noch realistisch? Bei der Einschätzung hilft der Blick zurück. An den drei Grand-Slam-Turnieren dieser Saison erreichte Stan Wawrinka nur einmal (Roland-Garros) die Halbfinals. Im Doppel triumphierte Martina Hingis mit der Inderin Sania Mirza in Australien, schied aber in Paris und in Wimbledon vor den Halbfinals aus. An drei Major-Turnieren errangen Schweizer drei Plätze unter den besten vier.
Um die Doppelpartner von Hingis rankten sich in den vergangenen Tagen jede Menge Fragezeichen. Anderthalb Wochen vor der Eröffnungsfeier verlor die Ostschweizerin binnen 20 Stunden beide ursprünglich vorgesehenen – Bencic bei den Frauen, Federer im Mixed. Wie am Samstag bekannt wurde, wird es in Rio kein Schweizer Mixed-Doppel geben. In der Frauen-Konkurrenz tritt Hingis nun gemeinsam mit Timea Bacsinszky an.
Die Hoffnungen auf Edelmetall ruhen primär auf Stan Wawrinka. Aber was ist dem 31-jährigen Waadtländer zuzutrauen? Vor acht Jahren in Peking holte der Romand mit Federer zusammen Gold im Doppel. Daneben brachten ihm die Sommerspiele überhaupt kein Glück. Nebst dem Doppelerfolg von Peking feierte er an Olympia-Turnieren nur zwei Siege. Im Einzel in Peking und im Doppel in London schied er jeweils in der zweiten Runde aus, in London (Wimbledon) unterlag er im Einzel in der Startrunde dem späteren Olympiasieger Andy Murray.
Dennoch zählt Wawrinka als neue Nummer 4 der Weltrangliste natürlich zu den Mitfavoriten und Medaillenanwärtern, zumal von den drei vor ihm klassierten Top-Leuten Roger Federer (ATP 3) fehlt – und der ab Montag im ATP-Ranking hinter Wawrinka klassierte Rafael Nadal seit dem French Open nicht mehr spielte.
Andererseits ringt auch Wawrinka darum, sein Selbstvertrauen wieder zu finden. Seit dem Turniersieg Mitte Mai in Genf verlor er am French Open vor der Halbfinal-Qualifikation beinahe in der Startrunde gegen Lukas Rosol, danach folgten im Londoner Queen’s Club eine Erstrunden-Niederlage gegen Fernando Verdasco und in Wimbledon eine Zweitrunden-Niederlage gegen Juan Martin Del Potro. Zuletzt in Toronto erreichte er am Rogers Cup erstmals den Halbfinal. Diesen verlor der Waadtländer nach einem schwachen Auftritt gegen den Japaner Kei Nishikori allerdings 6:7 (6:8), 1:6, nachdem er im ersten Satz vier Satzbälle vergeben hatte.
Für einen Exploit spricht, dass Wawrinka ein riesiger Fan von Sommerspielen ist. Er genoss bei all seinen Teilnahmen das Leben im olympischen Dorf. Und er wurde im «Village» auch schon zum Autogrammjäger. Wawrinka: «2008 in Peking sah ich den Basketballer Kobe Bryant. Ich wollte unbedingt ein Selfie mit ihm, was ich sonst nie mache. Gemeinsam mit Coach Severin Lüthi wurde vereinbart, dass wir ihn bei der nächsten Gelegenheit fragen. Diese Gelegenheit bot sich ein paar Tage später, aber unsere Handy-Akkus waren leer. Also sind wir wie Verrückte in die Unterkunft gerannt, haben den Akku ein paar Minuten geladen und sind dann zurückgelaufen und haben das Foto mit Kobe bekommen.»
Der Topfavorit bei den Männern ist natürlich Novak Djokovic, Sieger von vier der letzten fünf Grand-Slam-Turniere. Die Drittrunden-Niederlage in Wimbledon gegen Sam Querrey machte aber deutlich, dass auch Djokovic im Zenit seiner Karriere nicht unbesiegbar ist. Der grösste Rivale des Serben dürfte Andy Murray sein, der nach seinem zweiten Wimbledonsieg wieder vor Selbstvertrauen strotzt. Sowohl Djokovic wie Murray bestreiten in Rio ein happiges Programm: Murray bestreitet das Doppel mit seinem Bruder Jamie, Djokovic spannt mit dem aufschlagstarken Nenad Zimonjic zusammen. Beide überlegen sich ausserdem, auch im Mixed anzutreten. Mindestens die Hälfte aller Olympia-Teilnehmer im Tennis bestreitet zumindest zwei Konkurrenzen.
Generell ist der Enthusiasmus bei den Tennisprofis für Olympia gross: Die 34-jährige Serena Williams sagte es in Wimbledon so: «Die Goldmedaille in Rio ist einer der begehrtesten Preise in dieser Saison.» Die Wimbledonsiegerin ist auch in Rio die erste Titelanwärterin; sie gewann schon vier olympische Goldmedaillen. 2012 in London triumphierte sie im Einzel und im Doppel. Ausserdem gewann sie mit Schwester Venus das Doppel in Sydney und in Peking. Diesen vier Goldmedaillen steht nur eine einzige Niederlage gegenüber. 2008 in Peking verlor Serena Williams den Viertelfinal gegen Jelena Dementjewa.
Bacsinszkys Traum
Ins Einzelturnier in Rio starten die Waadtländerin Timea Bacsinszky und die Liechtensteinerin Stephanie Vogt. Sie benötigen Exploits, um ins Medaillenrennen eingreifen zu können (Bacsinszky) oder auch nur eine Runde zu überstehen (Vogt). Aber auch Bacsinszky träumt von der Medaille. Ihre Zuversicht basiert auf den Leistungen im Frühling in Key Biscayne, wo sie mit Siegen über Ana Ivanovic, Agnieszka Radwanska und Simona Halep auch an einem bedeutenden Hartplatzturnier die Halbfinals erreichte. Vogt, die in der Weltrangliste nicht zu den besten 250 Spielerinnen gehört, erhielt eine von nur zwei Wildcards.