Stay cool

Am Ende des heisstesten Juni-Tags der Geschichte wütet ein Sommersturm in der US-Haupstadt. Seither sind Millionen Menschen ohne Strom. «Where is your water?», ruft mir die Pförtnerin durch die spaltbreit geöffnete Tür ihrer Loge zu. Der kalte Hauch von ihrer Klimaanlage weht heraus. Es ist kurz nach Mittag. Die Luft über dem Asphalt glüht. Wir […]

Ein umgestürzter Baum vor dem Capitol Hill in Washington

Am Ende des heisstesten Juni-Tags der Geschichte wütet ein Sommersturm in der US-Haupstadt. Seither sind Millionen Menschen ohne Strom.

«Where is your water?», ruft mir die Pförtnerin durch die spaltbreit geöffnete Tür ihrer Loge zu. Der kalte Hauch von ihrer Klimaanlage weht heraus. Es ist kurz nach Mittag. Die Luft über dem Asphalt glüht. Wir schwitzen uns durch den heissesten Juni-Tag der meteorologisch erfassten Geschichte Washingtons.

Trotz der 40 Grad Celsius (104 Grad Fahrenheit) habe ich meine Wasserflasche vergessen. Gewöhnlich befestige ich sie als erstes an der Stange, bevor ich auf mein Rad steige. Ich hätte nie gedacht, dass das der Pförtnerin überhaupt auffällt. Sie sitzt – sommers wie winters in einem langärmeligen Hosenanzug aus festen Stoff – in ihrer eisgekühlten Loge.  Sie händigt die Post aus. Ruft Taxen. Kontrolliert BesucherInnen. Und überwacht eine Batterie von Bildschirmen, mit Videoaufzeichnungen, die aus allen Ecken und Etagen des Wohnblocks kommen. Ich danke ihr für den Tipp. Und hole Wasser, bevor ich in die Stadt fahre.

Kühlräume für Menschen

Die Strassen sind wie leer gefegt. Offenbar haben die seit dem frühen Morgen über Radio und Fernsehen verbreiteten Warnungen Wirkung getan. «Stay cool», sagen die ModeratorInnen. Und: «Bleibt zu hause». An die Adresse von alten und kranken Leuten, die keine Klima-Anlage zuhause haben, schlagen sie eindringlich vor, dass sie in die öffentlichen «Cool-Rooms» gehen. Die Stadt hat die «Cool-Rooms» nach dem Rekord-Sommer 1995 eingerichtet. Damals gab es in Chicago ein vielhundertfaches Hitzesterben.

Ich höre nur mit halbem Ohr auf die Warnungen. Aus der Perspektive meiner wohltemperierten Wohnung kommen sie mir übertrieben vor. Fast hysterisch. Aber mir fällt auf, dass ich nach jeder Radio-Warnung vor «dehydration» in die Küche gehe, um ein Glas Wasser zu trinken.

Am Abend des Freitags kommt die Explosion. Wir sitzen am Esstisch, als sich der Himmel verdunkelt. Plötzlich zucken Blitze durch die Luft.  Manchmal sind es drei oder vier Blitze gleichzeitig. Einige verlaufen vertikal. Andere diagonal. Wieder andere horizontal. Dazu dröhnen Donnerschläge, die sowohl aus unmittelbarer Nähe als auch aus großer Ferne zu kommen scheinen. Dann erhebt sich ein unheimlicher Wind. Er kommt mit einem lauten, bedrohlichen Grollen. Er treibt dichten Regen vor sich her. Parallel zum Erdboden. Und er drückt die Kronen von großen Bäumen wie Gummispielzeug zu Boden.

Wir verfolgen das Naturspektakel staunend. Anfangs rufen wir uns noch in Worten zu, was wir sehen. Dann verstummen wir. Als sich der Sturm legt und es draussen auf einmal erfrischend kühl und ungewohnt still wird, gehen wir auf Zehenspitzen auf den Balkon. Gucken sieben Stock in die Tiefe, wo der Boden nun dicht mit abgebrochenen Ästen und Blättern bedeckt ist. Und fühlen uns ganz klein.

Erst am Morgen danach erfahre ich, was ausserhalb des großen Wohnblocks passiert ist. Der Wind ist mit 129 Stundenkilometern durch Washington gerast. Hat hunderte Bäume abgebrochen oder entwurzelt. Hat mehrere Menschen getötet. Hat Hausdächer und Autos zertrümmert. Hat Strom- und Telefonkabel heruntergerissen. Und hat Straßen blockiert.

Veraltete Infrastruktur

Am Samstag sind knapp zwei Millionen Menschen im Großraum Washington ohne Strom. Große Stadtteile haben weder Strom, noch Telefon, noch Kabelfernsehen. Stellenweise ist auch die Wasserversorgung unterbrochen. Die Notaufnahmelager und «Cool-Rooms» füllen sich. Und der Chef der örtlichen Elektrizitätsgesellschaft «Pepco» fordert Hilfe aus dem ganzen Land an, um die Sturmschäden zu reparieren. Trotzdem werde es Tage dauern, sagt er, bis alle Opfer wieder am Elektrizitätsnetz sind.  

In meinen zweieinhalb Jahren in Washington ist es der zweite große Zusammenbruch des Stromnetzes. Im Winter 2010 war es Schnee, der die Stadt lahm legte. Dieses Mal ist es ein Sommer-Sturm. Zwischendurch fiel der Strom für Zig-Tausende mehrfach durch kleinere Stürme aus. 

Dass das Wetter große Teile der US-Hauptstadt immer wieder zum Katastrophengebiet macht, liegt vor allem daran, dass die Stromversorgung so veraltet ist. In den meisten Stadtteilen hängen Kabel in der Luft. Der Kabelsalat verläuft zwischen Bäumen, zwischen Häusern und quer über Straßen. Technisch wäre es kein Problem, sie unterirdisch – und wetterfest – zu verlegen. Aber die Stromversorger scheuen die Kosten.  

Ich habe mich oft über die Klima-Anlage in meiner Wohnung geärgert: Weil ich sie nicht abstellen und kaum regulieren kann. Weil sie unökologisch ist. Und weil sie im Winter zu viel Wärme und im Sommer zu viel Kälte verbreitet. Aber an diesem heissen Wochenende zwischen Juni und Juli weiss ich die Rundumversorgung zu schätzen. Ein paar Straßen weiter beleuchten NachbarInnen ihr Haus mit Kerzen. Können nicht kochen. Und müssen ihr Trinkwasser im Supermarkt kaufen. Mein Computer ist am Netz. Mein Fernseher funktioniert. Und ich trage Socken und ein Strickjäckchen, um beim Telefonieren und Surfen nicht zu frieren. Draussen ist das Thermometer wieder auf 100 Grad Fahrenheit geklettert.

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