Bald ist die Bretagne durchschritten, es nähert sich die Loire, das Tal der Loire. Ich sitze vor dem Zelt und denke über die Leute hier nach.
Achthundert Einwohner wohnen in diesem Dörfchen, das am Kanal hinter einem kleinen Wald liegt, wo mein Zelt steht. Das hat mir eine Frau erzählt. Drei Strassenreihen, beidseits gesäumt von aneinandergebauten, zweistöckigen Häusern, saubere Strassen, auf beiden Seiten neue Trottoirs. Eine Beiz, die grad auch noch Hotel ist und eine andere, die sehr stark nach Putzmitteln riecht. Und beide sind leer. Das ist so eine krasser Unterschied zu England: Dort stehen oder hocken in den Bars jeweils die eher heimatlosen Gesellen, Frauen ohnehin wenige, schauen ins Bier oder quatschen paar Belanglosigkeiten. In der Bretagne sind die Bars offenbar keine Treffpunkte für den Schwatz nach der Arbeit, wo man sich noch austauscht, drauflos redet, Kolleginnen und Kollegen trifft, einfach so.
Wer ordentlich lebt, geht nach der Arbeit heim, in diese Häuschen, die sich zu kleinen oder grösseren Ortschaften ansammeln, Chapell-Glain eben oder Châteaubriant halt. In Chapelle-Glain wird ohnehin nur gewohnt, Arbeit gebe es keine, man habe seine Stelle in Châteaubriant oder in Candé zum Beispiel. Erst abends dann, oder am Wochenende, kommt das Leben zurück ins Dorf – aber in die Häuser, nicht auf die Strasse, in die Bar oder auf den Dorfplatz. Die Plätze sind auch weniger fürs Rumstehen und -sitzen geeignet, sind baumlos, ohne Bänke – sie bieten eher Platz, um das Auto zu parkieren.
Etwas gespenstisch manchmal
Die Fensterläden sind geschlossen auf der Strassenseite, die Rollläden heruntergezogen. Auf der Hinterseite öffnen sich Gärten, dort brennt Licht, und die Leute gehen ihrem Feierabend nach. Es sind stille Gemäuer gegen die Strassenseite. Viele Häuser sind verlassen, und da die Leute hier ganz offensichtlich wenig Wert auf geputzte Fassaden legen, erkennt man nicht sofort, ob ein Haus, ja sogar: ob eine Strassenzeile bewohnt ist. Etwas gespenstisch manchmal.
Ich stand heute um halb zwei an einer Strassenkreuzung und hatte die Wahl zwischen zwei fast genau gleich langen Strecken zu zwei Dörfern. Entschied mich für Juigné-des-Moutiers, obwohl ich einer Überlandstrasse folgen musste. Schien mir aber nicht sehr problematisch, da zu diesem Zeitpunkt das WM-Spiel zwischen Frankreich und Uruguay angepfiffen wurde. Tatsächlich fuhr kaum ein Auto vorbei – und ich wanderte in Erwartung einer Bar, wo ich noch ein paar Minuten des Spiels sehen könnte, munter drauflos. Ein schwarzer Hund lag neben dem Platz bei der Kirche, aus einem offenen Fenster dröhnte die aufgeregte Stimme eines Reporters und eine alte, schwarz gekleidete Frau verliess ihr Haus, um ins gegenüberliegende zu gelangen. Das waren die Lebenszeichen in Juigné-des-Moutiers. Es gab keine Bar, und so ass ich den Rest aus der Provianttasche, und die Flasche füllte ich im öffentlichen WC auf.
Eine leichte Gleichgültigkeit
Das Faszinierende ist, dass auch die vielen, vielen verstreuten Gehöfte nicht sofort verraten, ob sie verlassen oder bewohnt sind. Efeu wächst an beiderlei Gebäuden herauf, eingestürzte Mäuerchen und Mauern erheben sich in die Landschaft, auch wenn gleich um die Ecke ein angebauter Hofteil liebevoll renoviert ist und alte Pflüge zu Blumenkisten umgebaut und farbig angemalt dastehen. Es ist alles so weit, es hat so unendlich viel Land, üppige Wiesenblumen in grosser Vielfalt machen einen glauben, es habe jemand an allen Ecken Sträusse hingestellt. Es stehen in der Landschaft verstreut so unzählig viele Gebäude, dass es nicht drauf ankommt, wenn hier eines und dort ein anderes zerfallen. Eine leichte Gleichgültigkeit breitet sich über die Bretagne, verzaubert sie mit einer stillen Melancholie, nur immer wieder durchbrochen durch Hundegekläffe.
In den Städten, etwa Rennes oder auch Châteaubriant, verliert diese Gleichgültigkeit den Charme. Sie wird zu stupider Oberflächlichkeit. Achtlos scheint man das Zeug hier verlottern zu lassen, bessert es schnell aus, wenn´s doch noch gebraucht werden kann. Das dumme Geschwätz in den Bars, laut hingeworfene Schnoddrigkeiten, gefolgt von grellem Gelächter. In denjenigen seltenen Bars jedenfalls, wo noch so etwas wie Leben ist, wo die paar verstreut Sitzenden nicht stumm ins Glas schauen. Die Frau, die mich gestern ungefragt mit dem Auto ein paar hundert Meter ins Städtchen hineingefahren hat, ist mir heute wieder begegnet. Wie es mir in Châteaubriant gefallen habe. Gut, hab ich gelogen. Und sie sagte mir mit einem verhaltenen Strahlen in den Augen, dass ich das Schloss unbedingt ansehen müsse. Sie hatte so etwas Ärmliches im hageren Gesicht und wenn sie lachte, zeigte sie die faulen Zähne. Und sie war einer der ausserordenlicheren Menschen, die mir begegnet sind – kam auf mich Fremden zu, wie ich es in England häufig erlebte. Das gehört nicht zur Art des Menschenschlags in der Bretagne. Wie die Läden an ihren Häusern halten sie auch sich eher verschlossen.
Das sind so Gedanken, die einem bei einer Flasche Wein, vor dem Zelt an einem Waldrand sitzend, durch den Kopf gehen.
(Chapelle-Glain, 6. Juni 2002)