Das Massaker von Katyn im Zweiten Weltkrieg spaltet Russen und Polen bis heute. Über 70 Jahre nach dem Massaker hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Montag Russland wegen einer menschenunwürdigen Behandlung der Angehörigen verurteilt.
Die Richter in Strassburg kritisierten, dass der russische Staat die Realität der Ermordung tausender Polen durch den sowjetischen Geheimdienst nur widerwillig anerkenne. Allerdings ordnete das Gericht nicht an, die Geschehnisse aus dem Jahr 1940 noch einmal neu zu untersuchen.
Geklagt hatten Angehörige von Opfern des Massakers, darunter Offiziere der Armee und der Polizei, ein Armee-Arzt und ein Schuldirektor. Ihre Vorfahren waren nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen gemeinsam mit etwa 22’000 Polen im April und Mai 1940 in Katyn und anderen Orten von sowjetischen Einheiten erschossen worden. Im Wald von Katyn bei Smolensk wurden mehr als 4000 Leichen verscharrt.
Moskau hatte jahrzehntelang die Verantwortung für diese Kriegsverbrechen bestritten und dafür die deutschen Nationalsozialisten verantwortlich gemacht, die 1939 Polen überfallen hatten.
Eingeständnis erst 1990
Erst 1990 gestand der letzte sowjetische Staats- und Parteichef, Michail Gorbatschow, ein, dass Sowjetdiktator Josef Stalin den Befehl zum Massenmord gegeben hatte.
Das russische Parlament, die Staatsduma, erkannte dies gar erst 2010 an. 1990 waren Ermittlungen aufgenommen worden, diese wurden aber 2004 ergebnislos wieder eingestellt. Die Anträge der Angehörigen auf Akteneinsicht wurden alle abgelehnt.
Die Aufarbeitung im Interesse der Angehörigen kommt nach Ansicht der Richter deshalb bis heute in Russland kaum voran. „Die Reaktion der Behörden auf die Anträge der meisten der 15 Beschwerdeführer, die Wahrheit über den Tod ihrer Angehörigen herauszufinden, sei mit menschenunwürdiger Behandlung gleichzusetzen“, hiess es im Urteil.
Entscheidende Frage nicht beantwortet
Die russischen Behörden hätten „auf das Leid und die Not der trauernden Angehörigen auf humane Weise und mit Mitgefühl“ reagieren sollen, befanden die Richter. „Frappant“ fanden sie den Widerwillen der Justiz, „die Realität des Massakers anzuerkennen“. Auch habe Moskau dem Gerichtshof Akten vorenthalten.
Die entscheidende Frage jedoch, ob nach Artikel zwei der Konvention (Recht auf Leben) der russische Staat das Massaker nicht gründlich genug untersucht hat, liessen sie unbeantwortet. Eine Verurteilung hätte eine Beschwerdeflut anderer Angehöriger auslösen und erneute Ermittlungen der Russen erforderlich machen können.