Und der «Bildrausch»-Ring geht an …

Die Jury hat entschieden: Der «Bildrausch»-Ring geht an einen Altmeister. Ein mehrfacher Glücksfall. Die Jury hat entschieden: Mit dem «Bildrausch»-Ring – und damit mit der Auszeichnung des diesjährigen Wettbewerbs – wurde ein mehrfacher Glücksfall geehrt: Ein chilenischer Altmeister, der sich noch an grosses Kino traut und der im Alter von 85 Jahren noch einmal zu […]

Die Jury hat entschieden: Der «Bildrausch»-Ring geht an einen Altmeister. Ein mehrfacher Glücksfall.

Die Jury hat entschieden: Mit dem «Bildrausch»-Ring – und damit mit der Auszeichnung des diesjährigen Wettbewerbs – wurde ein mehrfacher Glücksfall geehrt: Ein chilenischer Altmeister, der sich noch an grosses Kino traut und der im Alter von 85 Jahren noch einmal zu grosser Form aufläuft. Dass der Erfolg zu erwarten war, schmälert das Glück nicht, dass dieser Film überhaupt einen Weg nach Basel fand.

 

Die Wahl der Wahl der Wahl aus der internationalen Filmindustrie

25’000 bis 30’000 Filme werden weltweit jährlich produziert. Die grossen Festivals wählen davon für sich die besten aus. Die Mainstream-Festivals sind aber auch Marktplätze für Filme, die nach Zwischenhändlern suchen. 1500 Filme werden allein in Cannes gezeigt. 500 suchen in Berlin ihre Verleiher. Noch längst nicht alles, was den Einkäufern an Festivals auffällt, findet auch den Weg in die kommerziellen Kinos: 600 bis 700 der weltweit produzierten Filme erhalten an den Festivals in Europa Kinoverträge. Davon zeigen die Basler Kinobetreiber pro Jahr vielleicht einen Drittel.

Und die restlichen 29’750 Filme? Viele davon bleiben uns erspart. Viele entgehen uns aber auch zu Unrecht. Junges Kino, Eintagsfliegen, anspruchsvolle Filme finden nicht immer den Weg auf den Markt. Wer keinen risikofreudigen Händler findet, dringt auch nicht bis zum Konsumenten vor. Filmrechte werden gewinnorientiert gehandelt. Kinoerlebnisse bieten da ganz andere Mehrwerte, die nicht in Zahlen zu messen sind.

Perlentaucher bringen ungewöhnliche Filme nach Basel

Umso wichtiger sind die Perlentaucher des Basler Filmfestes. Der diesjährige Gewinner des «Bildrausch»-Ringes ist ein Beweis für die erfolgreiche Suche des Teams um Nicole Reinhard und Beat Scheider, die ihren Gewinner freudig päsentierten. Mit ihm standen ein weiteres Dutzend hochklassiger Filme zur Auswahl. In Cannes umjubelt, von der Kritik besungen, fand der Film « «La danza de la realidad» des fünfundachtzigjährigen Chilenen Jodorowsky allseitigen Applaus.

Einen Verleiher hat der Film übrigens bislang nur für die französische Schweiz. Und er wäre vielleicht an uns vorbeigegangen, wäre da nicht das Basler Filmfest. Seine Veranstalter sind hellwach für solche Glücksfälle.

Das Basler Filmfest füllt eine Lücke

Auch wenn Basler Kinogängerinnen bereits reiche kommerzielle Auswahl finden: Die agile Pathé-Gruppe (die Jodorowsky mitproduziert hat) beherrscht weitgehend den Blockbuster-Markt. Das sensible und engagiert abgestimmte Programm der Kult-Kinos liefert hochklassige Arthouse-Filme. Das Stadtkino ergänzt mit einem klugen Nischen- und Spezialitätenprogramm die kommerziellen Kinos. «Bildrausch» füllt eine Lücke. Es präsentiert denn auch mehr als nur einen valablen Gewinner:

Der Altmeister: Nach Kult-Filmen fast in der Versenkung verschwunden

Mit circensischem Furor steht Alejandro Jodorowsky’s «The Dance of Reality» allen anderen diesjährigen Filmen im Licht: Jodorovsky überzeugte mit seinem surrealen Familien-Universum. Er richtet seinen Fokus in die Geschichten seiner Kindheit – und findet darin Weltgeschichte: Der strenge Vater, der seinem Kind beim Kitzeln das Lachen verbietet und beim Zahnarzt den Verzicht auf Anästhesie befiehlt, wird zu seinem persönlichen Stalin. Die Mutter, die im Kind pathetisch den Vater vergöttert, wird zur universalen Operndiva. Sie singt auf das Kind ein, anstatt mit ihm zu reden.

Die ganze Jodorowsky-Familiensaga wird zum narrativen Weltbild: Wie in einem gigantischen Zirkusunternehmen, kombiniert Jodorowsky seine surreale Bilderflut genial mit Musik (von Adan Jodorowsky), präsentiert seine Episoden mit überdrehtem Spiel (Brontis Jodorowsky spielt den Vater), verblüfft mit der Liebe zum improvisierten Detail, wie wir sie von Fellini kennen, und erzählt mit dem sprachlichen Bilderreichtum Nerudas. Ein Meisterwerk für alle Sinne. Und ein Gemeinschaftswerk der Familienmitglieder.  

Der Patron Alejandro Jodorowsky  hat sich mit der Epsioden-Sammlung nicht nur selber die literarische Vorlage geliefert, sondern auch einen Teil des Personal selbst gezeugt. Sein Sohn Brontis spielt die Hauptrolle. Dessen Bruder Adan besorgte die Musik und spielt damit gewissermassen die andere Hauptrolle: Was wir sehen, ist eine üppig bebilderte surreale Familien-Oper, die das Universum in einer Welt der Gaukler, Hasardeure und Traumtänzer in einen irrwitzigen politischen Tanzabend fasst.

Familiengeschichte als Weltgeschichte, die die Familiengeschichte prägt

Jodorowsky, selbst als Kind ukrainischer Eltern in Chile geboren und nach Paris emigriert, vergröbert seine Familiensaga zu einer politischen Sagenwelt Chiles, die mitten in der Weltgeschichte wiederum zu jenem geschichtlichen Hintergrund wird, der das Schicksal der ukrainischen Familie ausmacht: Als Juden verfolgt, als Kommunisten gefoltert, als Heilssucher verlacht, sucht die Familie nach einem kleinen Paradies.

Wie sein ukrainischer Vorgänger Isaak Babel schildert Jodorowsky, der in Mexiko geboren wurde, seine Erinnerungen als Muster einer allgemeinen Geschichtsauffassung: «Erinnerung», sagt  Brontis  Jodorowsky, der in Basel zur Première anwesend war, «ist immer eine Form der Fiktion. Fiktion macht die Erinnerung produktiv. Sie verdichtet unsere Vergangenheit in Bildern. Film ist genau das: Ich erinnere mich. Ich richte die Kamera in meine Vergangenheit. Das heisst, ich lasse alles weg, was nicht vor meiner Linse geschieht. Es ist das tiefste Wesen des Films, auszuwählen und zu verdichten». Fellini hätte sein «Amarcord» wohl ähnlich kommentieren können.

Ein würdiger Festival-Abschluss

Jodorovsky fasst mit seinem fulminanten Film Einzelaspekte des «Bildrausch»-Festival noch einmal in einem Werk zusammen: Den Mut, eine persönliche Welt in einem universalen Bild zu schildern. Die Kunst, Narration in Bildwelten musikalisch zu machen. Die Kraft, Leid in ungeschönten Bildern zu ertragen. Die List, Bilder-Kunst als Methode der Freiheit zu nutzen. Kaum einer hat die Tiefe der Leinwand so souverän vorgeführt wie Jodorowsky mit seinem 2D-Film. Und derart politisch verschmitzt.

Gewinner sind auch die anderen Festival-Schwerpunkte

Wer in den fünf Tagen seine Sinne erweitern wollte, fand im «Bildrausch» überbordend Gelegenheit: Neben der Wahrnehmung in 3 Dimensionen (Labor 3D), lud eine Malmros-Reihe zur Vivisektion von persönlicher Erfahrung im Lebenswerk (Malmros-Retrospektive) ein. Im Zentrum stand ohne Zweifel die Bildersuche im Wettbewerb («Bildrausch»-Ring). Und als grosse Ergänzung flankierten erratische Grosswerke (u.a. «Die andere Heimat» von Edgar Reitz und «Ist hard to be a God» von Aleksey German) das Programm.

Klug tat, wer sich beschränkte: Etwa auf die Filme des populärsten dänischen Filmemachers, Nils Malmros, der mit seinem «Sorrow and Joy» auch im Wettbewerb vertreten war. Malmros, der lange hinter dem Weltruhm der anderen Dänen (Bier, vonTrier, Vinterberg etc.) zurückgesetzt blieb, wird uns im Stadtkino auch noch weiter erhalten bleiben. Sein Werk steht exemplarisch für die Kunst des narrativen Films, der persönliches Leben mit den Mitteln der Kunst auch anderen nutzbar macht. Sein «Sorrow and Joy» fand denn auch eine besondere Erwähnung der Jury.

Gewinner des «Bildrausch»-Filmfestes waren aber vor allem all jene Besucherinnen, die die hinreichende Gelegenheit zum Austausch mit den Machern nutzten. Es gibt kaum Festivals, die so wenig Berührungsängste schüren. Während in anderen Festivals der Rote Teppich die Trennlinie bildet, gibt es hier einen Teppich, der für alle ausgebreitet ist: Der Kunsthalle-Hof, die Stadtkino-Bar, die Kunsthalle-Lounge und der Theater-Vorplatz. Sie standen allen offen.

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