Unterirdisch und raffiniert

Bisher unbekannte Pilzgeflechte im Boden tragen entscheidend zum Pflanzenwachstum bei. Die Erkenntnisse des Basler Forschers Andres Wiemken könnten der Landwirtschaft neue Impulse geben. Ein Auszug aus dem Buch «Mozart und die List der Hirse».

Gleiche Erde, gleich viel Wasser, gleich viel Nährstoffe und trotzdem – der eine Flachs und die eine Hirse wachsen schneller und kräftiger. Der Grund: Pilzgeflechte im Boden. (Bild: Illustration: Nils Fisch)

Bisher unbekannte Pilzgeflechte im Boden tragen entscheidend zum Pflanzenwachstum bei. Die Erkenntnisse des Basler Forschers Andres Wiemken könnten der Landwirtschaft neue Impulse geben. Ein Auszug aus dem Buch «Mozart und die List der Hirse».

«Voilà.» Andres Wiemken legt ein Foto auf den Schreibtisch. Darauf sind zwei Töpfe abgebildet, in denen je eine Flachs- und eine Hirsepflanze zusammen wachsen. Im rechten Topf ist die Flachspflanze mehr als doppelt so gross wie jene im linken Topf. Auch die Hirse ist ein bisschen grösser. Und dies, obwohl die Pflanzen in beiden Töpfen in gleicher Erde wachsen und gleich viel Wasser und Nährstoffe erhalten haben. Zufall? «Nein», sagt der Botanikprofessor von der Universität Basel, «der Grund für den Unterschied sind Pilzgeflechte.» Im Topf rechts sind Mykorrhizapilze in der Erde, im anderen Topf gibt es keine.

Praktisch alle Landpflanzen leben unter natürlichen Bedingungen in einer Symbiose mit unterirdischen Pilzgeflechten. Mykorrhiza heisst auf Griechisch «Pilzwurzel». Unter der Erde, erklärt Wiemken und deutet auf den rechten Topf, gebe es ein dichtes Geflecht aus Pilzfäden, die auch die Wurzeln der beiden so ganz verschiedenen Flachs- und Hirsepflanzen miteinander verbinden. Die Mykorrhizapilze führen dem Flachs und der Hirse Nährstoffe aus dem Boden zu – vor allem Phosphat, aber auch Stickstoff und andere Mineralstoffe.

Ein Geben und Nehmen

Die Pflanzen ihrerseits beliefern die Pilze mit Kohlenhydraten, die sie mittels Photosynthese produzieren, wie zum Beispiel Zucker. «Mit unserem Versuch wollten wir noch mehr über den gegenseitigen Austausch herausfinden», sagt Wiemken. «Wir fragten uns: Geht da auch alles gerecht zu? Erhalten in einer Pflanzengemeinschaft jene Pflanzen, die viel in das gemeinsam betriebene und genutzte Pilzgeflecht im Boden investieren, auch entsprechend viel von den Pilzen zurück?»

Wiemkens Team untersuchte, von wem die Pilzfäden ihre Kohlenhydrate beziehen: von der Hirse oder vom Flachs? Das überraschende Resultat: Rund 80 Prozent der Kohlenhydrate in der Pilzbiomasse stammten von der Hirse. «Die Hirse baut das Pilznetz auf, und der Flachs profitiert am meisten davon», erklärt Andres Wiemken. «Man könnte sagen: Die Hirse füttert den Flachs.» Dank dieser Kooperation werde eine Flachspflanze neben einer Hirsepflanze fast doppelt so gross wie ohne Pilzgeflecht. Und was bekommt die Hirse? «Auch sie erhält von den Pilzen Nährstoffe aus dem Boden, also Phosphat und Stickstoff. Ob sie noch einen anderen Profit daraus zieht, wissen wir nicht.»

Mykorrhizen sind Andres Wiemkens Passion. Der Forscher spricht respektvoll von diesem imponierenden Zusammenspiel von Pflanzen und Pilzen. «Ein Mykorrhizapilz», erklärt er, «wächst mit seinen Fäden, den Hyphen, in eine Zelle der Pflanzenwurzel hinein. Die Zellwand löst sich an einer Stelle auf, so dass der Pilz ins Innere der Zelle gelangen kann, ohne dabei die dünne Zellmembran zu verletzen. Diese stülpt sich ein und umhüllt den Pilz.» Entlang dieser dünnen «Schläuche» findet der Stoffaustausch zwischen Pflanzenzelle und Pilzfaden statt: Nährstoffe für die Pflanze und Kohlenhydrate für den Pilz. Die Pilzfäden gelangen von der Wurzelzelle nach aussen in die Erde und bilden dort ein weitverzweigtes Netz, um grossräumig Nährstoffe aufzunehmen. Ein Kubikzentimeter Erde – also etwa ein Fingerhut voll – kann leicht über 100 Meter Pilzfäden enthalten.

Auch in unseren Wäldern seien die Bäume über ein riesiges unterirdisches Netz miteinander verknüpft, ein Netz aus Wurzeln und den Fäden unserer Waldpilze, erläutert Wiemken weiter. Das aber ist das Forschungsgebiet seiner Frau, Verena Wiemken, die am selben Institut arbeitet. Im Fachjargon wird das Netz unter dem Waldboden WWW genannt: Wood Wide Web. Es verbindet ganz verschiedene Bäume miteinander und ermöglicht dadurch den Austausch von Nährstoffen, Wasser und Kohlenhydraten.

Zum WWW gehören bekannte Speisepilze, wie Steinpilze, Pfifferlinge, Goldröhrlinge, Täublinge oder Morcheln, sowie viele andere Pilzarten. Es sei für alle eine grosse Überraschung gewesen, sagt Wiemken, als man entdeckt habe, dass in einem Wald alle Bäume über das WWW miteinander vernetzt sind. «Oberirdisch können Sie jedes einzelne Baumindividuum gut erkennen. Doch der unterirdische Teil eines Waldes bildet eine riesige, untrennbar verbundene Lebensgemeinschaft. Nährstoffe werden dort ausgetauscht, wo sie gebraucht werden. Es ist eine Art Handel.»

Alte Bäume sollten stehen bleiben

Die Waldbäume sorgen auch dafür, dass ihre Nachkommen einen guten Start haben: Alte Douglastannen zum Beispiel «füttern» ihre Sämlinge durch die unterirdischen Pilzfäden mit Kohlenhydraten. So können die kleinen Douglastannen auch an dunklen Orten ohne viel Sonnenlicht gedeihen. Wichtig ist vor allem, dass sie an das Netz angeschlossen sind und von der Mutter versorgt werden können. Alte Bäume sollten daher nicht vorschnell aus dem Wald entfernt werden.

Wiemken interessiert vor allem, was die Pilzgeflechte ausserhalb eines Waldes bewirken. Können sie zum Beispiel das Wachstum und die Artenvielfalt von Krautpflanzen beeinflussen? Das hat er 1998 in Zusammenarbeit mit amerikanischen Partnern im Baselbieter Jura untersucht.

Sie legten verschiedene Parzellen an und säten darauf die immer gleichen 15 typischen Wiesenpflanzen aus. Einige Parzellen erhielten keine Mykorrhizapilze, andere wurden mit zwei verschiedenen Arten, wieder andere mit vier, acht oder 14 Mykorrhizapilz-Arten beimpft. Die Unterschiede überraschten selbst Wiemken: Auf den Parzellen ohne Bodenpilze setzte sich ein einziges Gras aus der Saatgutmischung durch – es überwucherte fast alle Pflanzen. Impfte man den Boden mit Mykorrhizapilzen, stieg die Artenvielfalt sofort an. Dank der Mykorrhizen wuchsen die Pflanzen kräftiger und wurden höher. Diese Ergebnisse konnte die Gruppe in der angesehenen Zeitschrift «Nature» veröffentlichen. Das ist aber längst nicht alles. «Mykorrhizapilze schützen die Pflanzen auch vor Trockenheit und verbessern den Boden. Ein gut durchpilzter Boden kann viel Wasser speichern und wird vor Erosion geschützt.»

40 Prozent mehr Ertrag

Diese Erkenntnisse könnten für die Landwirtschaft von Nutzen sein. Gemeinsam mit mehreren Partnern in Indien untersuchte Wiemkens Team zum Beispiel, wie eine Zugabe von Mykorrhizapilzen die Ernten zu verbessern mag. In der Gangesebene, in der bei konventioneller Landwirtschaft im Gefolge der Grünen Revolution vor rund 50 Jahren nur noch monoton Weizen im Winter angebaut wird, sind die Böden oft degradiert, und die Erträge nehmen trotz des steigenden Aufwands seit Jahren stetig ab. «Unsere indischen Projektpartner haben seit einigen Jahren mit dem Saatgut auch eine Mischung ausgewählter Mykorrhizapilze und nützlicher Bakterien an mehreren Versuchsstandorten aussäen lassen. Es ist unglaublich, was die Pilze und Bakterien bewirken! Der Weizen brachte über 40 Prozent mehr Ertrag und war auch von besserer Qualität.»

Fruchtbares Zusammenspiel

Auch Mischkulturen scheinen den unterirdischen «Handel» zu fördern, weil hier verschiedene Fähigkeiten zusammenkommen. Bohnengewächse tragen Stickstoff bei. Bei Trockenheit können Pflanzen mit sehr tiefen Wurzeln – etwa die Lupine oder Bäume und Sträucher – das Wasser aus der Tiefe nach oben holen und damit das Mykorrhizanetz auch für die übrigen Pflanzen funktionstüchtig erhalten. Andere Pflanzen wiederum sind besonders gut im Akquirieren von Phosphaten. Dann gibt es Pflanzen wie die Hirse, die bei viel Sonnenlicht und Wassermangel besonders effizient Photosynthese betreiben und mehr Kohlenhydrate ins Netz investieren können als andere Pflanzen.

«So können alle mit ihren besonderen Fähigkeiten dazu beitragen, das Mykorrhizanetz als gemeinsame Infrastruktur für die Nährstoffaufnahme aus dem Boden aufzubauen und zu erhalten», sagt Wiemken. Er ist selbst fasziniert, was im Boden alles passiert: «Je mehr wir forschen, desto mehr nimmt nicht etwa unser Wissen, sondern vor allem unser Nichtwissen zu. Man muss zugeben, dass wir vor einem Riesenrätsel stehen. Vor Kurzem dachte man noch, es sei ganz simpel: Die Pflanzen holen sich einfach die Nährstoffe mit ihren Wurzeln im Boden. Jetzt merken wir langsam, wie raffiniert und hochkomplex das Ganze funktioniert, und dass viele Pflanzen allein eigentlich gar nichts können und nur in der Gemeinschaft mit anderen und mit diesen Pilznetzen gut gedeihen.»

 

 

 

 

 

Quellen

Florianne Koechlin, Denise Battaglia:
«Mozart und die List der Hirse – Natur neu denken»;
Lenos-Verlag, Basel.
233 Seiten, mit zahl­reichen Abbildungen.
33.80 Franken

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.03.12

Nächster Artikel