Verlorene Sprachen: «Rezyklierte» Handschriften als Fundgrube

Im Mittelalter war Pergament rar und teuer und wurde deshalb häufig mehrmals benutzt: Mit Klingen kratzten die Gelehrten die oberste Schicht der Tierhaut ab oder wuschen die Tinte ab und beschrieben das Pergament erneut. Mit moderner Technik gelingt es, diese alten Texte wieder sichtbar zu machen und so sogar ausgestorbene Sprachen zu entdecken.

Pergament war im Mittelalter rar (Archiv) (Bild: sda)

Im Mittelalter war Pergament rar und teuer und wurde deshalb häufig mehrmals benutzt: Mit Klingen kratzten die Gelehrten die oberste Schicht der Tierhaut ab oder wuschen die Tinte ab und beschrieben das Pergament erneut. Mit moderner Technik gelingt es, diese alten Texte wieder sichtbar zu machen und so sogar ausgestorbene Sprachen zu entdecken.

Der grösste Bestand solcher Handschriften, die auch Palimpseste genannt werden, befindet sich im Katharinenkloster am ägyptischen Sinai. Dort führen Forscher um Claudia Rapp von der Universität Wien die Untersuchungen durch. Erste Ergebnisse des «Sinai Palimpsest Projects» präsentieren sie ab Freitag an einem Workshop in Wien.

«Wir erwarten neue Erkenntnisse zu alten oder bisher unbekannten Sprachen, neue Texte aber auch neue Handschriftenstile», erklärte Rapp gegenüber der Nachrichtenagentur APA. In den ausradierten Texten fand sich beispielsweise das Alphabet des Kaukasischen Albanisch, eine Sprache, deren Existenz zwar seit dem Zweiten Weltkrieg vermutet wurde, die bis dahin aber nur aus Inschriften und indirekten Quellen bekannt war.

Einige Funde gibt es auch zum christlich-palästinensischen Aramäisch, dessen besondere Schrift seit dem 12. Jahrhundert kaum mehr benutzt wurde. Auch ein bisher unbekannter Hymnus auf den Heiligen Nikolaus auf Griechisch und ein medizinisches Traktat wurden gefunden. «Diese Entdeckungen erweitern das linguistische Material, an dem die Sprache studiert werden kann, enorm», sagte Rapp.

Mit Liturgie überschrieben

Überschrieben wurden die Handschriften im Laufe der Zeit vor allem mit liturgischen Texten oder Hagiographien, also Lebensgeschichten von Heiligen. «Die Texte der oberen Schichten sind nichts Spektakuläres, die Handschriften wurden zum täglichen Gebrauch erstellt und spiegeln so auch ein bisschen sozialhistorischen Alltag.»

System oder Absicht kann Rapp in den Auslöschungen beim derzeitigen Stand der Forschungen aber nicht erkennen. «Vielleicht handelte es sich um ‚freundliche Vernachlässigung‘ von altem Material, vielleicht kam aber auch einfach eine Neuausgabe und der alte Text wurde nicht mehr gebraucht», meinte sie.

Diese Schätze werden mit modernster Technik gehoben. Jede Seite werde 31 Mal mit verschiedenen Wellenlängen von Licht und unterschiedlichen Einstrahlungsvarianten aufgenommen, erklärte Rapp. Ein Computer macht die darunter liegenden Texte sichtbar. Anschliessend identifizieren die Sprach-Detektive die Texte und ihre paläographischen Eigenheiten.

Ältestes Kloster des Christentums

Am Ende des Projektes soll eine Open-Access Datenbank entstehen, in die neben den Digitalaufnahmen auch eine kurze Katalogbeschreibung eingespeist wird.

Das Katharinenkloster wurde im 6. Jahrhundert gegründet und ist das älteste immer noch bewohnte Kloster des Christentums. Eine Besonderheit seiner Sammlung ist damit auch die Beständigkeit: «Die Palimpseste sind über Jahrhunderte an diesem Ort verblieben, zum Teil wurden sie auch im Kloster selbst angefertigt», erklärt Rapp.

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