Wenn man eine Weile in einem anderen Land lebt, fangen die Perspektiven an, sich zu verschieben. Davor ist alles, was man «daheim» zurückgelassen hat, sozusagen das Gelobte Land. Oder, um es mit Janosch zu sagen, dort ist alles «viel schöner, und SO groß».
Wir sind diesen August seit 16 Jahren in den USA. Seit 16 Jahren in demselben Ort im nordöstlichen Ohio – Einwohnerzahl etwa 27’000. Es gibt ein College, Industrie (oder was davon übrig ist), ein landwirtschaftliches Forschungszentrum der Ohio State University und viel, viel Landwirtschaft. Was einen kulturell und in anderer Hinsicht über Wasser hält, ist die Nähe zu Cleveland und dem Erie See.
Die Stadt, aus der ich stamme, hatte, als wir gingen, ungefähr 350’000 Einwohner, liegt in der Nähe zu Frankreich, und kann, obwohl sie immer irgendwie als provinziell galt, als recht kosmopolit bezeichnet werden. Ständig gibt es Konzerte, Theateraufführungen. Überall sind Kneipen und Biergärten, die man über die sich in alle Ecken der Stadt erstreckenden Radwege oder das exzellent ausgebaute Nahverkehrsnetz problemlos erreichen kann.
Man stelle sich also die Umstellung vor, die zusätzlich zum obligatorischen Kulturschock auf mich wartete, als wir hierher zogen. Die ersten drei Jahre wollte ich eigentlich nur eines: schnell wieder weg. Dennoch, man faßt irgendwo Fuß, paßt sich an, findet Anschluß.
Viele Expats machen den Fehler, sich nicht aus ihrem sozial-ethnischen Ghetto herauszubewegen. Sie sind an einem Ort über Monate, Jahre hinweg, und machen sich doch nie die Mühe, die sie umgebende Kultur wirklich kennenzulernen. Als wir hierher zogen, gab es einige deutsche Familien am Ort, die alle aus den gleichen Gründen hier waren. Alles nette Leute, und aber man hing hauptsächlich deswegen aneinander, weil man sich auf einem einsamen deutschen Eisberg in einer großen, amerikanisch-arktischen See befand. Das schweißt notwendigerweise zusammen.
Zwischenzeitlich hat sich das für mich radikal geändert. Wir fanden Anschluß an viele Amerikaner, die ich als Freunde bezeichnen würde, und mit denen man sich übrigens ganz offen und normal unterhalten kann. Bei all ihrer Freundlichkeit sind sie nämlich eher reserviert, und es dauert eine ganze Weile bei manchen, bis sie sich öffnen. Bei Deutschen kommt das oft als «oberflächlich» an, denn obwohl einem alltäglich ein «How are you?» entgegengeschmettert wird, gilt es als äußerst rüde, Leuten Dinge ins Gesicht zu sagen. Bei Deutschen ist das dagegen «direkt» und «ehrlich».
Ich habe über Jahre hinweg gelernt, daß da, wo es für Deutsche ein «Problem» gibt, es bei Amerikanern mit «concern», einer «Besorgnis», anfängt, die sich dann zu «disappointment» oder einer «Enttäuschung» entwickelt, wenn sich die Besorgnis nicht hat aus der Welt schaffen lassen. Aus dieser wird dann ein «issue» oder eine «Angelegenheit», die nicht zur Zufriedenheit gelöst in ein «problem» (Problem) mündet. Nimmt man also von vorneherein das Wort «Problem» in den Mund – man denke hier an einen Satz wie «John, wir haben ein Problem», dann bedeutet das für einen Amerikaner, «John, Du hast total versagt, wir werden Dich feuern.»
Gleichfalls heißt «We have to have lunch sometime» (Wir müssen mal zusammen zu Mittag essen) lediglich, daß der andere Teil das Gespräch nett fand und es gerne später fortsetzen würde. Und so weiter, und so fort.
Man macht es sich in einer fremden Umgebung insgesamt leichter, wenn man davon abkommt, alles schlecht zu finden, und akzeptiert, daß es einfach nur eines ist: anders. So kann man Kritik üben, ohne alles summa summarum zu verdammen, und es entsteht eine Diskussion, aus der alle Beteiligten etwas lernen können.