Ich weiche dem Verkehr aus und wechsle ins Landesinnere. Dort ist es so heiss, dass mir der Verkehr an der Küste plötzlich ganz erträglich vorkommt.
Ferragosto an einem Donnerstag, da liegt das Brücklein auf der Hand – nur der Freitag als kleiner Pfeiler. Italien liegt lahm – alle, alle, alle machen frei.
Ich hatte unglaubliches Glück, diese Unterkunft weit oben am Berg erhalten zu haben. Wer jetzt noch ein freies Zimmer hat, ist unfähig, im Tourismus einen Cent zu verdienen. Die Städte, so höre ich, sind leer, was sich bewegen kann, ist ans Meer gefahren und liegt jetzt an einem dieser kilometerlangen Strände, langweilt sich vielleicht, isst, schwatzt, trinkt, steht mal bis zum Bauch im Wasser, wirft einen Plastikball in die Luft, Hauptsache, raus aus der Stadt, Hauptsache frei, Hauptsache Ferragosto.
Hab das Zimmer genossen dort oben am Berg, die Sicht aufs Meer, das Feuerwerk, den Mond am Himmel, die Musik aus dem nahen Dorf. Man hätte sich auch ärgern können über die Absteige: weder Leintücher noch Tür, nur ein Gitter in der Öffnung auf den Platz hinaus, keine Wäsche im Badzimmer, dafür gefüllte Aschenbecher. Wahrscheinlich hat der Service die vorgesehenen Gäste darum auch vorzeitig vertrieben.
Ferragöstlicher Preis
Den Preis haben die Vermieter ferragöstlich hoch angesetzt, dafür könne ich den ganzen Tag bleiben. Doch um halb zehn begehrten vier junge Burschen Einlass. Sie hatten das Zimmer mittlerweile gemietet, wollten rein und schauten mir penetrant zu, wie ich mein Velo packte. Einer war neugierig, fragte mich nach meinem Woher und Wohin, die anderen schauten dumm und fassungslos zu.
Bin dann losgezogen, den Berg hinauf nach Centola, habe dort meinen Kaffee getrunken und mich nach der Passkuppe die Strasse hinunter ins Landesinnere treiben lassen. Kilometer um Kilometer blieb dieses in ganz Europa wohl gleiche Küsten-Treiben mit Plastikmatratzen, Sonnenschirmen, Miet-Liegestühlen, Kühlboxen und gebräunten Menschen hinter mir. Hinter dem Berg nur noch Einöde, kaum Leute, kaum Autos.
Stille Häuser, mal eine Bar mit alten, schwatzenden Männern. Wo eigentlich sind die Frauen? Wer an einem Schwatz teilhaben will, parkt vor der Bar, auch wenn es keinen Platz hat und die Strasse eng ist. Man schaltet die Notblinken ein und wer durchs Dorf kurvt, soll sie bitte beachten und aufpassen.
Alt und jung im Streit
In Celle di Bulgheria ist sogar die Bar leer. Die junge Wirtin, etwa zwanzig Jahre und recht fett, setzt sich auf einen Plastikstuhl neben mich, schaut gedankenlos auf die Strasse und schweigt. Beginnt später mit einem älteren Mann, der dahergeschlurft kommt, zu keifen, es scheint, als hätten sie im Verlauf des Vormittags schon mal über das Thema, das ich nicht ergründen kann, gestritten, sie haken jedenfalls mitten in einer Auseinandersetzung ein. Der Mann geht weg, langsam, und bevor er in eine Seitengasse verschwindet, ruft ihm die junge Frau nach: «Die Wahrheit ist relativ.» Schweigt lange, wiederholt den Satz später nochmals. Und offenbar denkt sie intensiv über diese Erkenntnis nach, sagt nach fünf Minuten so auf die Strasse hin: «Alles ist relativ. Auch die Wahrheit.»
Kein Auto fährt vorüber, nichts. Mit einer neuen Weisheit über die Wahrheit im Ohr steige ich wieder bergan, auf einen Pass hinauf, der Schweiss tropft auf den Velorahmen und nach der Abfahrt nach Sapri bin ich wieder trocken. Plötzlich wieder das glänzende Meer vor mir, hinter mir eine kurvenreiche Strasse durch wilde Berge, die Hänge sind grün wegen des ausserordentlich häufigen Regens dieses Jahr.
Dunkelblau
Die Küstenstrasse ist atemberaubend und schön, Aufstiege zum Teil recht steil, rechterhand bedrohliche Steilhänge direkt zum Meer, dunkelblau, Yachten ankern, auch kleine Boote treiben auf den Wellen. Leute mit etwas Geld, die sich von Strandmassen wegheben konnten und in der Meereswildnis vor überwältigender Küstenkulisse Abenteuerstunden verbringen.
Wenig Verkehr am Nachmittag, die Leute erfrischen sich am Strand. Immer hinauf, hinunter, es sind keine dreihundert Kilometer mehr bis Reggio di Calabria.
Von allen Balkons sämtlicher Hotels, den teuersten und den schäbigen, flattern Badetücher, Badkleider. Die Hoffnung, ein Zimmer zu erhalten, ist minim. Frage an etwa dreissig Orten – alles Absagen, und ich merke, dass meine Aufmachung in Wanderschuhen und kurzen Hosen schlecht ankommt. Sehr abschätzige Blicke. Auch da funktioniert der Markt. Vor einer Woche noch klagten die Zeitungen über leere Hotelzimmer.
Aussenseiter ohne Zelt
Biege schliesslich in einen Zeltplatz ein und werde abgewiesen, weil ich kein Zelt habe. Hier hat man Zelt oder Wohnwagen. Mit einer gewissen Hartnäckigkeit bleibe ich an der Reception stehen, tue als hätte ich nichts verstanden und begriffen, und da kommt dann so ein kleiner, schmieriger Aufseher und weist mir ganz hinten an der Bahnlinie, wo es nach Toilette riecht, ein Plätzchen zu. Sitze lang am Strand, schaue dem Treiben zu, der Sonne, wie sie sich in einem prächtigen Schauspiel durch Gewitterwolken ins Meer senkt. Irgendwann stöbert mich der Aufseher auf und sagt, wenn es zu regnen beginne, könne ich mich unters Dach der Reception setzen. Irgendwann spüren sie dann doch ihr Herz.
Will im Camping-Restaurant etwas essen. Es ist leer. Als Einzelfigur werde ich mitleidig ans Ende des einzig besetzten Tisches in diesem leeren Raum geführt. Ein Ehepaar schweigt sich an, beide ziemlich dick. Sie wissen einfach nicht, was reden. Der Neon-beleuchtete Raum ist ungemütlich, der Vorplatz, wo wir sitzen, auch. Die Kellner machen sich auch ohne Gäste wichtig, schauen nicht hin, wie all die Gäste, die nicht auf dem Campingkocher kochen, schnöd an ihrem grell erleuchteten Speisesaal vorbeigehen. Vielleicht war das mal anders, vielleicht gab es bessere Zeiten, als die Tische hier besetzt waren. Als der Verputz noch oben hing und die lose baumelnden Drähte irgendwo Strom hinleiteten.
Jetzt ist es leer und alles ein bisschen traurig, auch wenn von irgendwoher heftige Tanzmusik herüberschallt. Vielleicht war wirklich einmal alles etwas anders hier, und das Essen war vielleicht auch gut, damals.
(Praja di Marina, 16. August 2002)