Unter welchen Bedingungen kann die Schweiz einen neuen Staat anerkennen? Ein Erklärstück.
Kürzlich verabschiedete das neugewählte Regionalparlament in Barcelona eine Resolution mit dem Ziel eines unabhängigen Kataloniens. Madrid reagierte umgehend mit einer Verfassungsklage, die vom Verfassungsgericht auch gutgeheissen wurde. Jedoch tangiert die katalanische Forderung nach Selbstbestimmung nicht nur Spanien, sondern auch die Aussenpolitik der Schweiz.
Die Schweiz muss vor einer allfälligen Anerkennung eines neuen Staats zwischen den Interessen der sezessionistischen Gruppierung und des von der Abspaltung (Sezession) betroffenen Staats abwägen. Ein Entschluss zu Ungunsten des spanischen Staats wäre indes nicht nur unangebracht, sondern auch ungewöhnlich, da entgegen der bisherigen schweizerischen Praxis.
Prinzipiell hat jedes Volk ein Recht auf Selbstbestimmung. Wer oder was jedoch ist ein «Volk» und somit Träger dieses Rechts? Zunächst und wenig überraschend sind dies Staatsvölker wie auch, besonders in den 1960er-Jahren aktuell, Völker unter Kolonialherrschaft.
Minderheiten geniessen nicht dieselben Rechte wie Völker
Kontrovers dagegen sind Selbstbestimmungsforderungen von Völkern «im ethnischen Sinne». Charakterisiert durch objektiv feststellbare und von anderen Gruppen differenzierbare Merkmale (Kultur, Sprache, Geschichte) sowie das subjektive Zugehörigkeitsgefühl seiner Mitglieder, ist ein solches Volk doch zwingend von einer Minderheit zu unterscheiden. In der Praxis ist dies oft nicht einfach, zugleich aber zentral.
Denn anders als einem Volk gewährt das Völkerrecht einer Minderheit keine absolute Selbstbestimmung, sondern «bloss» Minderheitenrechte, etwa die eigene Sprache zu sprechen. Dies wird zuweilen als «interne Selbstbestimmung» bezeichnet. Indessen ist es einer Minderheit untersagt, einen eigenen Staat zu gründen und dadurch das sogenannte «äussere Selbstbestimmungsrecht» zu realisieren.
Heute ist beinahe die ganze Erdoberfläche unter Staaten aufgeteilt. Folglich ist die Gründung eines neuen Staats nur auf Kosten eines anderen, bereits bestehenden Staats möglich. Doch diese wehren sich gegen allfällige Territoriumsverluste und verweisen auf ihr immanentes Recht auf territoriale Unversehrtheit. Ein betroffener Staat könnte denn auch die externe Anerkennung einer Sezession als verbotene Einmischung in seine inneren Angelegenheiten sehen.
Ein betroffener Staat könnte die externe Anerkennung einer Sezession als verbotene Einmischung sehen.
Für die Schweiz als Drittstaat ist es deshalb grundlegend, dass der direktbetroffene Staat vorgängig mit der angestrebten Abtrennung einverstanden ist, wie etwa im Fall der intendierten schottischen Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Akzeptiert ein Mutterstaat die Sezession eines Landesteils jedoch nicht, werden auch die anderen Staaten diese kaum anerkennen. So geschehen bei der Abspaltung der Krim von der Ukraine.
Allerdings gibt es auch hierbei eine Ausnahme – wobei die oben erwähnten Prinzipien des inneren und äusseren Selbstbestimmungsrechts in einer Art Stufenverhältnis verstanden werden müssen. Wird einer Minderheit auf krasse Weise und unter Missachtung grundlegender Menschenrechte das innere Selbstbestimmungsrecht verweigert, kann ihr von Drittstaaten ein Anspruch auf «äusseres Selbstbestimmungsrecht» als letzter Ausweg («means of last resort») zuerkannt werden.
Dies traf beispielsweise bei der kosovarischen Unabhängigkeit zu. Zwar billigte auch die serbische Regierung die Abspaltung des Kosovo nicht. Doch die systematische Unterdrückung der kosovarischen Bevölkerung durch Serbien in den 1990er-Jahren, veranlasste die Schweiz und weitere Staaten, die in letzter Konsequenz erfolgte Lossagung des Kosovo von Serbien als rechtmässig anzuerkennen.
Spanien hat ein Recht auf territoriale Integrität
Im Fall von Katalonien sieht sich die Schweiz ebenso mit dem Gegensatz zwischen Forderungen nach Selbstbestimmung und dem Recht des Mutterstaates auf territoriale Integrität konfrontiert. Da die Katalanen jedoch allgemein nicht als eigenes Volk sondern als Minderheit gelten, steht ihnen dementsprechend «nur» ein Recht auf inneres Selbstbestimmungsrecht zu. Einem äusseren Selbstbestimmungsrecht und somit der Abspaltung entgegen steht das Recht Spaniens auf territoriale Integrität, das bei Drittstaaten nach wie vor Vorrang geniesst.
Solange der spanische Staat den Katalanen weiterhin erlaubt und ermöglicht, ihre Sprache und Kultur selbstbestimmt zu leben, gibt es für die Schweiz also keinen Grund, die Interessen der Katalanen über diejenigen von Spanien zu stellen und Katalonien als eigenständigen Staat anzuerkennen. Einzig die Zustimmung des spanischen Staates zu einer Abspaltung Kataloniens oder aber gravierende Menschenrechtsverletzungen gegen die katalanische Bevölkerung würden die Schweiz legitimieren, einen eigenständigen katalanischen Staat anzuerkennen.
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Daniel Högger ist Senior Policy Fellow «Global Governance» bei foraus. In seiner im vergangenen Frühjahr erschienenen Dissertation untersuchte er die Entwicklung der Anerkennungsvoraussetzungen im Völkerrecht.