Weltbekanntes Lockerbie, 10. Mai 2002

Lockerbie, wo 1988 eine Boeing der Pan American abgestürzt ist, ist ein Ort, den man nicht unbedingt gesehen haben muss. Aber er wird in Erinnerung bleiben.

Rings um Lockerbie weiden Schafe – und auf solch eine Wiese muss 1988 die Boeing gestürzt sein. (Bild: Urs Buess)

Lockerbie, wo 1988 eine Boeing der Pan American abgestürzt ist, ist ein Ort, den man nicht unbedingt gesehen haben muss. Aber er wird in Erinnerung bleiben.

Mittlerweile wandere ich beschwerdefrei. Komme voran, der Rucksack drückt kaum mehr. Die Landschaft ist öde geworden, flach, ohne Bemerkenswertes. Am Abend bin ich Meilen und Meilen gegangen, in Trance fast und befinde mich in Lockerbie.

Lockerbie, ein kleines Nest wenige Meilen vor der englischen Grenze, es ist Freitagabend. In einem grossen Gebäude, in welchem unter anderem das Zivilstandsamt untergebracht ist, muss ein öffentlicher Saal sein. Klassische Musik dröhnt heraus, schwere Pauken, Orchester-Fortissimo und Arien. Ein Freitagabend-Konzert, sagt einer.

Links über der Strasse der einzige Laden, der um neun Uhr noch geöffnet hat mit unzählig vielen verschiedenen Sorten von Bier, Whiskys und Wein. Die Verkäuferin hält die Augenlider tapfer offen.

Lockerbie – wer nichts anfangen kann mit Arien und Pauken, hockt in den schmucklosen, niedrigen Steinhäusern des Dorfes und schaut wahrscheinlich TV. Oder lungert trotz ordentlicher Abendfrische im T-Shirt auf dem emsig befahrenen Dorfplatz herum und quatscht und kreischt und schwatzt und lacht. Was gibt es da zu lachen?

In die Welt geworfen

Lockerbie – ringsum die Felder mit den Schafen, Mutterschafen mit ihren Zwillingen, die auf die Welt geworfen werden, herumtollen auf den Wiesen, mit kokett eingeknickten Beinchen wichtig in den Tag hineindösen und hasenfüssig zur Mutter eilen, wenn ein Mensch auftaucht. Schafe auf den Feldern um Lockerbie, hier auch sehr viele Rinder, Kühe, Kälber. Hingeworfen wie vor zehn, fünfzig, hundert Jahren. Hineingeworfen in diese Welt wirken auch die Jugendlichen auf dem Dorfplatz. Wahrscheinlich sind ihre Väter und Mütter schon so herumgestanden. Sie lungern herum, diese Halbwüchsigen, sind in die Höhe geschossen, Jeans an den Beinen, T-Shirts über die Brust und eine Jeans-Jacke drüber. In die Höhe erst, dann in die Breite, die Hosen werden eng, die Shirts und Blusen knapp. Ein Job in der Sägerei, der Garage, einer Fabrik, Bar – oder auch keiner.

Der Freitagabend kommt, kommt regelmässig und beharrlich, der Samstag auch und der Sonntag und dann wieder der Freitagabend. Sie haben lesen gelernt in den Jahren des Hochschiessens, rechnen auch, können Münzen, Noten unterscheiden –  ein Pint kostet  einssechsundneunzig. Am Freitagabend zwei, drei oder mehr.

Fucking, fucking …

Lockerbie – sechs Jugendliche sitzen in der Bull Bar, ein schweigendes Paar Ende sechzig auch. Das Paar raucht, er – Jeanshose und -jacke, neue, weisse Turnschuhe – dreht die Zigaretten selbst, dünn wie eine Stricknadel. Die Jungen füllen sich mit Pints, schauen in den schottischen Serienfilm und warten auf das grosse Abenteuer. Es wird gewiss nie in die Bull Bar kommen. Auch wenn sie es fucking, fucking herbeibeschwören. Kein Satz – ich schwöre es! – ohne «fucking». Locker bringt einer sechs fucking in einem Satz unter, ich hab gezählt. Sie reden auch vom Fucken und einer sagt, wenn Du so weiter säufst, kommst du nie zum Fucken. Soviel hab ich verstanden, mehr nicht. Und er hat dem Angesprochenen unters T-Shirt gegriffen, eine Handvoll Fett gepackt und gesagt, das stört beim Fucken. Alle haben noch gelacht und in zwei Stunden werden sie prügeln und nicht mehr lachen. Das alte Paar ist dann vielleicht nicht mehr dort und öffnet eine Dose vor dem TV.

Lockerbie hat Alternativen: die Conny-Bar. Der Billard-Tisch ist leer, ein wilder Typ mit schwarzer Wollkappe, Goldemblem und Tätowierung auf dem rechten Oberarm redet auf ein Mädchen ein. Die Frau an der Theke wiegt gewiss achtzig Kilo, ihr langes Haar ist frisch gewaschen und glänzt. Was sonst noch glänzt, ist der Gel in den Haaren der Gäste, schüttere, nach hinten gekämmte Strähnen. Die kurzgeschorenen Köpfe glänzen nicht. Die Jux-Box ist laut aufgedreht, ein paar schreien sich an, einer versucht sein Glück am Spielautomaten. Kein Barhocker, der nicht irgendwann mal aufgeschlitzt und mit fleckig gewordenem Klebband geflickt worden wäre. Durchgetretener Novilon-Boden, fleckige Bodenplatten gucken hervor. Eine Frau mit eingebundenem rechten Arm bietet mir eine selbstgedrehte Zigarette an. Ich kann nicht mit ihr reden, die Musik ist zu laut und ich verstehe ohnehin kein Wort. Ausser, auch hier: fucking.

Lockerbie – mit Hotel. Das Blue Bar Hotel. Fünfzehn Pfund die Nacht, istnicht viel, Frühstück inklusive. Die Wirtin ist spindeldürr, ihr Mann auch, der Koch wiegt hundertzwanzig Kilogramm. Er empfiehlt Peany-Salat und das ist: Zwiebeln, gewürfelte Tomaten, Salatblätter und darüber eine scharfe, warme Tomatensauce gegossen, mit Crevetten drin. Auf kleinem Tisch daneben die «Scotland Sun». Das kommt mir ganz gelegen, ich will mich mal wieder informieren über das Weltgeschehen: Ein Komiker verhöhnt den Euro – die Titelgeschichte – und Berti Vogts erklärt den schottischen Nationalspielern vor der demnächst beginnenden Fussball-WM in Südkorea und Japan den Tarif: Wenn sie schon nur anderthalb Stunden pro Tag trainierten, hätten sie kein Recht, sich über Müdigkeit zu beklagen. Ansonsten sie nicht auf die Fernostreise mitkommen dürften. Harte deutsche Sitten im schottischen Fussball.

Lockerbie – wenige Kilometer von der englischen Grenze. Wer hier Schottland entdeckt, wird umkehren. Wird Glasgow grau finden und die Highlands öde. Wird den Frühling vermissen und das Essen wegstellen.

Der Flugzeugabsturz

Lockerbie ist weltberühmt. Ein Flugzeug stürzte ab – nicht einfach ein Absturz. Ein nie geklärtes Attentat, hinter dem Muammar Ghaddafi vermutet wird. Oh, was für ein fucking, fucking Knall, mögen die Leute hier gesagt haben, als es passierte. Es hätte auch früher abstürzen können oder später. Dann wäre Lockerbie nichts als dieses trostlose Nest geblieben, das es ist. Der triste Anfang in ein wunderschönes und geheimnisvolles Land mit liebenswürdigen Menschen oder der trübe Fleck am Ende eines wundervollen Fussmarsches. Lockerbie hat ungewollt Weltruhm errungen, ungewollt und unrühmlich, weil hier etwas geschah, was nie gewollt war – wie in Seveso, Bhopal, Tschernobyl, nicht so dramatisch und folgenschwer, aber ebenso zufällig und unverhofft. Und: Kein Zeichen im Dorf erinnert an jenen Abend.

(Lockerbie, 10. Mai 2002)

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