Kolossaler kann die Affiche an der EM nicht sein: Der Weltmeister Deutschland spielt in Marseille, in der wohl heissesten Fussball-Stadt Frankreichs, gegen den Gastgeber um das Finalticket.
Der «Classico» ist Sport-Geschichte, «Le Classique» bestimmt die deutsch-französische Agenda. Sein italienisches Trauma hat der WM-Champion Deutschland in einem Penaltyschiessen von epochaler Tragweite überwunden, nun steht ihm der Sinn nach der nahtlosen Fortsetzung von angenehmeren Serien.
Joachim Löw kann im Stade Vélodrome schaffen, was vor ihm in der 116-jährigen DFB-Geschichte nur den bereits verstorbenen Helmut Schön und Jupp Derwall gelungen ist: Die Mannschaft innerhalb von zwei Jahren in einen WM- und EM-Final zu führen. Seit dem 1:2 im EM-Halbfinal im Juni 2012 war «La Mannschaft» in zwölf Turnier-Spielen unschlagbar gut.
In den wirklich wichtigen Rendez-vous mit Frankreichs erster Fussball-Garde haben die Deutschen nie enttäuscht. Die Franzosen hingegen verloren in den Achtzigerjahren mehrere Zähne (Patrick Battiston) und die Fassung. Den zwei WM-Halbfinal-Tragödien folgte 2014 das 0:1 in der sengenden Hitze von Rio de Janeiro.
Zu fürchten hat die Nummer 1 der Fussballwelt im Prinzip keinen Kontrahenten. Die DFB-Elf ist auf allen Ebenen führend – physisch, taktisch, spielerisch. Nur das Personal-Bulletin wirft Fragen auf, die Folgen der Ausfälle von Mats Hummels (gesperrt), Mario Gomez und Sami Khedira (beide verletzt) sind unabsehbar, auch wenn der frühere Star-Trainer Ottmar Hitzfeld den Favoriten nach wie vor «für stark genug hält, Frankreich zu schlagen».
Die Vergleiche mit Platini und Zidane
«Wir haben nicht vergessen!» oder „Durst nach Revanche! – nicht nur die französischen Zeitungsmacher wählten einen Mittelweg zwischen einer Rückschau auf eher dunklere Kapitel und dem couragierten Ausblick auf die Stunden der Entscheidung. Der Formanstieg sei unübersehbar, die imposante Turnierbilanz vor eigenem Publikum wird zum Faktor erhoben: Seit 58 Jahren und 17 Spielen hat die Trikolore den Heim-Rasen weder auf EM- noch auf WM-Niveau als Verlierer verlassen.
Erinnerungen an die Charakterköpfe der goldenen Generationen flammen auf. Immer häufiger tauchen Vergleiche auf mit Michel Platini, der von allen FIFA- und UEFA-Podien gestürzt ist, aber als unsichtbarer «Platoche» der 84er-Helden tief im französischen Herzen weiterzaubert, und Zinédine Zidane, dem magischen Regisseur des WM-Triumphs von 1998.
Der Wind hat gedreht, die zu Beginn erhebliche Skepsis gegenüber der Elf von Didier Deschamps ist verflogen – auch wenn sich die Experten noch nicht restlos einig sind, was Antoine Griezmann und Co. in Tat und Wahrheit zuzutrauen ist. In der Vorrunde war einzig die Schweiz in der Lage, den Gastgeber beim 0:0 teilweise etwas aus der Reserve zu locken. Irland leistete Widerstand, mehr nicht, Island war «kein Gradmesser» – das sah nicht nur Beobachter Hitzfeld so.
Reibung inklusive
Von höchstem öffentlichen Interesse ist momentan die strategische Ausrichtung: 4-2-3-1 oder zurück zur 4-3-3-Formation? Mit oder ohne N’Golo Kanté? Im Prinzip Luxusprobleme. «DD» wird sie lösen, aber Didier Deschamps bespricht seine Pläne in der Regel nicht mit den Reportern. Der Chef an der Linie goutiert die teilweise polemischen Ansätze der Systemdebatten nicht.
Die Reibung mit dem medialen Begleittross ist schon länger spürbar. «L’Equipe» nimmt die französischen Hoffnungsträger täglich unter die Lupe. Die Sport-Bibel seziert jede Geste, jedes Zwinkern, jeden Fehlpass, jeden taktischen Winkelzug. Und sie macht und misst die Stimmung im Fussball-Volk.
Mal sind die Einheimischen «Retter des Fests», mal die «Könige der Spannung», mal «fast perfekt», mal wird der «bras d’honneur» von Pogba zur landesweiten Affäre ausgeweitet. Mit der partiellen Überhitzung tun sich gewisse Spieler schwer, dem Coach missfallen Beiträge schon länger extrem, hinter denen er Kampagnen vermutet.
Verantwortung ohne Grenzen
Les Bleus, die blauen Repräsentanten, die im eigenen Land mehr als nur Fussball-Spiele zu gewinnen haben. Die vom Terror in Paris im vergangenen November schwer getroffene Nation fleht in diesen heissen Tagen nach guten Nachrichten, nach Einigkeit, nach einem Projekt, das funktioniert, das zumindest einen Sommer lang das Image anhebt.
Als unmittelbar vor dem Turnier die TGV-Züge stillstanden und auch die Air-France-Belegschaft streikte, drohte das Chaos. Prügelbanden aus England und Russland terrorisierten Marseille. Frankreichs Nationalspieler sassen im Bus, die Ouvertüre im Stade de France stand an, tonnenschwer lastete der Druck auf den Protagonisten.
Romain Giroud erinnert sich an ein kurzes Telefonat mit seinem prominenten Bruder Olivier: «Diese armen Burschen! Ihnen wird zu viel Verantwortung aufgebürdet, als müssten sie den Welthunger beseitigen und alle Lebewesen vor dem Aussterben bewahren.»