Weniger böse Menschen

Kutscher Krächz und Doktor Garin fahren auf dem Schlitten durch die russische Nacht. Sie sind vom Weg abgekommen, haben ihn wieder gefunden, und unvermittelt fragt der Doktor den Kutscher nach dem Wichtigsten im Leben.

Schneesturm (Bild: Patric Sandri)

Kutscher Krächz und Doktor Garin fahren auf dem Schlitten durch die russische Nacht. Sie sind vom Weg abgekommen, haben ihn wieder gefunden, und unvermittelt fragt der Doktor den Kutscher nach dem Wichtigsten im Leben.

Vladimir Sorokin

Vladimir Sorokin (Bild: Patric Sandri)

Sie setzten sich zurecht, packten sich ein und fuhren wieder los. Stary Possad hatten sie schnell hinter sich. Links und rechts der Strasse stand lockeres Buschwerk, an einer Stelle ragten Schilfstängel aus dem Schnee.

«Guck an!», bemerkte der Krächz kopfschüttelnd. «Hier haben sies anscheinend nich mal nötig, das Schilf zu schneiden. Die müssens ja haben!»

Ihn überkam die Erinnerung, wie er mit dem Vater, Gott hab ihn selig, im Herbst Schilf geschnitten, gebün-delt und das Dach damit gedeckt hatte. Alljährlich war neues hinzugekommen. Am Ende war das Dach dick und warm. Bis es dann abbrannte.

«Kosma, Bruderherz, sag mir, was ist für dich im Leben das Wichtigste?», wollte der Doktor auf einmal von ihm wissen.

«Das Wichtigste?» Der Krächz schob sich die Mütze aus der Stirn und lächelte sein Vogellächeln. «Ach, der Herr, ich weiss nich … Das Wichtigste iss, dass alles im Lot iss.»

«Alles im Lot, was soll das heissen?

«Na, dass die Pferdis gesund sind, dass Geld für Hafer da iss … ja und dasses einem selber an nix gebricht.»

«Na gut, nehmen wir an, das ist so: Deine Pferdchen sind gesund, du bist es auch, Geld ist vorhanden. Was noch?»

Der Krächz dachte nach. «Ach, ich weiss nicht … Vielleicht, dass ich mir tatsächlich mal ne kleine Imkerei aufziehe. Drei Stöcke oder so.»

«Nehmen wir an, du hast sie. Was noch?»

«Ja, was denn noch?», fragte der Krächz lachend.

«Sag bloss, da ist nichts, was dich darüber hinaus noch interessiert?»

Der Krächz zuckte die Schultern.«Der Herr, ich weiss nich, was Ihr meint.»

«Etwas, das du am Leben gerne ändern würdest?»

«An meinem? Da gibts nix. Man iss zufrieden damit.»

«Und am Leben an sich?»

«An sich …» Der Krächz kratzte sich mit dem Handschuh an der Stirn. «Dasses weniger böse Menschen gäbe. Das vielleicht.»

«Ah! Das ist gut!», sagte der Doktor und nickte ernsthaft. «Böse Menschen sind dir wohl ein Graus?»

«Kann man so sagen, der Herr. Um einen bösen Mann, da mach ich meilenweit nen Bogen. Wenn ich mit so einem zusammenrausch, macht mich das krank. Dann wird mir so speiübel, als hätt ich den Bauch voller Aas. Dieser Müller zum Beispiel. Den brauch ich nur zu sehn, die Stimme zu hörn – da kommt mir alles hoch, ohne dass ich den Finger in den Hals stecken müsst. Ich frag mich, der Herr, was einer davon hat, so böse zu sein.»

«Böse Menschen, das gibt es nicht. Der Mensch ist von Natur aus gut, denn er ist nach Gottes Ebenbild geschaffen. Das Böse ist ein menschliches Versehen.»

«Versehn? Kommt aber ziemlich oft vor. Ich zum Beispiel konnt als Kind nich mitansehn‚ wie einer gezüchtigt wird. War ich selber dran, gings noch — paar Tränen vergossen, und gut wars. Aber wenn ich gesehn hab, wie sie nen andern über die Schulbank strecken, da ward mir hundeelend, ich war nah dran, in Ohnmacht zu falln. Und auch wie ich ­grös­ser war: Hat sich ne Prügelei abgebahnt, taten mir die Beine zittern wie nach nem Tag Stämme rücken. Ein schweres Versehn iss das, der Herr.»

«Fürwahr, Bruderherz, ein schweres Versehen. Aber Gutes gibt es im Leben weit mehr als Böses.»

«Ja nu. Mag sein.»

«Das Gute, darauf kommt es an!»

«Versteht sich. Dem Guten iss sein Lohn bereitet.»

«Das hast du trefflich gesagt! Wir zwei kutschieren über sieben Berge, nur um den Menschen Gutes zu tun! So muss es sein!»

«Wohl wahr, der Herr. Wenn wir bloss schon da wärn.»

Sie kamen durch das Wäldchen und kurze Zeit später an die Weggabel. Beide Wege, der nach links ins Feld abzweigende ebenso wie der, welcher nach rechts in die Büsche führte, waren zugeweht und ohne Spur.

(Auszug aus «Der Schneesturm» von Vladimir Sorokin)

Vladimir Sorokins (57) Roman «Der Schneesturm» erzählt die Geschichte, wie der Landarzt Garin so schnell wie möglich in den Ort Dolgoje fahren will, um die Menschen dort gegen eine rätselhafte Krankheit zu impfen. Es tobt ein Schneesturm, Garins Pferde sind erschöpft. Er heuert den Kutscher Kosma (Krächz) an, dessen Schneemobil von 50 winzigen Pferden gezogen wird. Eine merkwürdige Reise: Das ungleiche Paar begegnet Zwergen und Riesen, es gibt ein Radio mit lebendigen Bildern – eine Märchenwelt mit Ingredienzen einer Hochtechnologie-Gesellschaft. Ein zugleich heiteres wie verstörendes Buch.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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