In Grimms Märchen gibt es kaum saisonale Angaben. Darum erfahren wir nicht, zu welcher Jahreszeit Rotkäppchen dem Wolf auf dem Weg zur Grossmutter im Wald begegnet ist. Da heisst es nur: «eines Tages».
Die Erzählung vom Rotkäppchen mag man für eine Geschichte halten, die in langen Winternächten am Kaminfeuer vorgelesen wird. Doch bei genauerem Hinschauen fällt der Ratschlag der Mutter auf: «Mach dich auf, bevor es heiss wird…» Es könnte sich also um eine Geschichte auch zum Sommerloch handeln.
Viel Imagination, wenig Realität
Vom Rotkäppchen, um noch einen Moment bei diesem treuherzigen Wesen zu bleiben, heisst es in der Geschichte, es habe nicht gewusst, was der Wolf für ein böses Tier ist, und es habe sich darum (fälschlicherweise) nicht vor ihm gefürchtet. Auch heute gibt es Menschen, die sich vor dem Wolf nicht fürchten, allerdings ohne ihm konkret begegnet zu sein. Und andere fürchten sich vor ihm, obgleich auch sie noch keine konkreten Erfahrungen haben. Viel Imagination, wenig Realität.
Der Wolf ist oft schlichtweg das «Andere» und wird als solches gefürchtet, zuweilen aber auch geschätzt. Im Grimmschen Märchen ist er der Böse und Durchtriebene, im Gegensatz zum lieben und etwas naiven Rotkäppchen oder den gutgläubigen, vom Wolf überlisteten «sieben Geisslein».
Das Besondere am Wolf ist, dass er wirklich wild, das heisst nicht domestizierbar ist und auch kein Nutztier, sondern dessen Gefährder und für die Sesshaften und ihre Herden der Feind par excellence.
Bei den sich selber eher als wild verstehenden Nomadenvölkern wurde der Wolf als Inbegriff kämpferischer Kraft verehrt. Aus Urzeiten stammen die Namen Wulfganc oder Wolfgang, Wolf, auch Rudolf, Arnolf, Adolf. Wenn der Wolf als gutes Alter Ego geschätzt und verehrt wird, hat er die Qualität eines Totemtiers, was bedeutet, dass der Mensch zu ihm eine mythisch-verwandtschaftliche Verbindung pflegt.
Ein Tier mit sozialen Qualitäten
Meistens wird er im Maskulinum gedacht – der Wolf – , obwohl es auch Weibchen gibt und eine Sage uns daran erinnert, dass die im Wald ausgesetzten Zwillinge Romulus und Remus ihr Leben der fürsorglichen Mamma Lupa verdanken.
Dazu passt die Botschaft der Bestsellerautorin Elli H. Radinger und ihr im Oktober 2017 erschienenes Buch «Die Weisheit der Wölfe», in dem sie die sozialen Qualitäten dieser Tiere würdigt: «Von ihnen habe ich gelernt, dass es wichtig ist, seine Familie zu lieben, sich um die zu kümmern, die uns anvertraut sind, nie aufzugeben und niemals aufzuhören zu spielen.»
Nicht nur in Basel, auch an anderen Orten der Schweiz und Deutschlands erinnern als Wolfsschluchten benannte Wege an die frühere Präsenz von Wölfen. Längere Zeit galten die Wölfe in unseren Breitengraden als ausgestorben beziehungsweise völlig ausgerottet. Inzwischen sind sie aber zurückgekommen, in der Schweiz sollen es etwa 40, in Europa insgesamt 10’000 bis 20’000 sein. Unterschieden wird zwischen Rudeln und Einzeltieren (dem berühmten «einsamen» Wolf).
Und sie vermehren sich. Ein deutscher Experte warnt, dass sich bei einem jährlichen Zuwachs von 30 Prozent der Bestand in drei Jahren verdopple und man in fünf bis zehn Jahren von 2000 bis 3000 Wölfen in seinem Land ausgehen müsse.
Auch im Schweizer Parlament wird jetzt darüber diskutiert, ob beim Europarat erneut eine Lockerung der Konvention von 1979 zur Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere beantragt werden soll. Insbesondere der Wolf, aber auch Luchs und Biber sollen aus der Kategorie «streng geschützt» herausgenommen und nur noch als «geschützt» eingestuft werden, so wie der Steinbock und das Murmeltier.
Gemäss Art. 9 dieser Konvention können schon jetzt, wenn keine andere befriedigende Lösung möglich ist und die geschützte Gattung damit nicht gefährdet wird, einzelne Tiere zur Verhütung ernster Schäden, unter anderem an Viehbeständen, oder im Interesse der öffentlichen Sicherheit entfernt werden. So hat der Bund im Dezember 2015 zwei Jungwölfe des Calanda-Rudels zum Abschuss freigegeben. Bis zu jenem Zeitpunkt waren etwa acht Wölfe legal erlegt worden. Ein illegaler Abschuss wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder einer Busse bis zu 20’000 Franken geahndet.
Jüngste Diskussionen drehen sich um die Frage, wie weit es sich bei Wölfen um Mischlinge mit partieller Hundeherkunft handelt. Diese hybriden Wesen sollen für den Menschen gefährlicher sein, sie hätten die Scheu der «echten» Wölfe teilweise verloren. Eindeutige Hybride dürfen abgeschossen, ja sie sollten sogar «aus der Natur» entfernt werden. Unklar ist allerdings, was unter Reinrassigkeit verstanden werden soll.
Jedem Kanton sein eigenes «Wolfsmanagement»
In der Debatte spielt auch das Geld eine gewisse Rolle. Im Februar 2016 schrieb die NZZ, dass die Schadenvergütung von Nutztierrissen Bund und Kantone etwa 100’000 Franken pro Jahr koste. Und für die Überwachung des Wolfsbestands würden im Durchschnitt etwa 200’000 Franken ausgegeben. Weit teurer seien die Massnahmen für den Herdenschutz mit drei Millionen Franken jährlich. Total bezifferte der Bundesrat die Kosten für das Wolfskonzept mit 3,3 Millionen Franken. Die Schafhaltung dagegen werde mit jährlich rund 40 Millionen Franken subventioniert.
Die jetzt neu angestrebte Regelung will die Wolfsjagd unabhängig von akuter und «erheblicher» Gefährdung freigeben und den Entscheid, ob die noch immer geschützten Tiere erlegt werden dürfen, den Kantonen überlassen. Die Befürworter preisen den föderalistischen Gestaltungsraum. Kantone sollten unabhängig von den in anderen Kantonen herrschenden Meinungen ein eigenes «Wolfsmanagement» betreiben dürfen.
Es könnte sein, dass am Ende nicht der Wolf, sondern das Jagdgesetz abgeschossen wird.
Im Klartext: Die urbanen Teile der Schweiz sollen den archaischer eingestellten Teilen der Schweiz keine Vorschriften mehr machen können. Während andere sich dafür einsetzen, dass Mensch und Wolf nebeneinander vorbeikommen, machte sich der Bündner Ständerat Stefan Engler (CVP) für die Koexistenz von Stadt- und Bergbevölkerung stark.
Der Ständerat sprach sich in der vergangenen Sommersession mit 28 zu 14 Stimmen bemerkenswert deutlich für eine Lockerung des Wolfsschutzes aus. Umweltverbände drohen mit dem Referendum, falls der Nationalrat im Herbst nicht einen Teil wieder rückgängig machen wird. Es könnte dann das Risiko bestehen, dass nicht der Wolf, sondern das Jagdgesetz abgeschossen wird.
Archaische Reflexe
In der Wolfsdebatte bezichtigen sich beide Seiten der Unsachlichkeit und Emotionalisierung. Den Freunden des Wolfs wird vorgeworfen, sie würden das Tier als Öko-Ikone kultivieren, den Nutztieren nicht den nötigen Schutz gewähren und als Städter kein Verständnis für die Bergkantone aufbringen.
Den Wolfsjägern wiederum wird vorgeworfen, sie würden mit den Hinweisen auf die Vermehrungsgefahr Ängste schüren, der eigenen Furcht vor Kontrollverlust erliegen und mit archaischen Reflexen auf Vorrat Wildtiere eliminieren.
Die Wolfsschützer fordern, dass man die Proportionen nicht aus den Augen verlieren soll. Bei der freien Sömmerung in den Bergen würden viel mehr Nutztiere verunfallen, als von Wölfen je gerissen werden. Gemäss Angaben des Bundesamts für Umwelt (Bafu) aus dem Jahr 2016 wurden in den letzten Jahren etwa 160 Nutztiere pro Jahr gerissen. Dies betraf zu 90 Prozent Schafe und zu sieben Prozent Ziegen. In den meisten Fällen (93 Prozent) waren die Herden nicht geschützt und befanden sich frei in alpinen Sömmerungsgebieten.
Streit um Herdenschutzhunde
Seit einigen Jahren werden Herdenschutzhunde mit Erfolg eingesetzt, insbesondere die grossen weissen Pyrenäenberghunde, die sich durch ein hervorragendes Schutzverhalten auszeichnen.
Nun ist aber ein neues Problem aufgetaucht. Diese Hunde wollen ihre Herden auch vor Wanderern und Bikern schützen, was zu einigen unerfreulichen Vorkommnissen geführt hat. Darum wird nun auch Schutz vor diesen Schützern gefordert, ein Schafhüter (sofern vorhanden) soll seine Hunde hüten.
Im Urserental entstand unter der imperativen Bezeichnung «Keine Herdenschutzhunde» eine Interessengemeinschaft, die ein komplettes Halteverbot solcher Tiere für die Region forderte. Ihr Präsident Columban Russi erklärte: «Die Hunde vertreiben die Touristen von den Wegen, die wir mit viel Geld unterhalten. Letztlich richten sie mehr Schaden an, als sie nützen.»
Dass dies nicht einfach nur (wie vielleicht beim Wolf) Angstfantasien entsprungen ist, zeigte ein Vorfall im Wallis. Anfang Juli erlitt ein Wegmacher einen schweren Beinbiss, und der Problemhund musste eingeschläfert werden.
Wer weiss, was die Natur braucht?
Gemäss einem NZZ-Kommentar würden es sich die Städter zu einfach machen, wenn sie den Berglern von fern zurufen, wegen ein paar toter Schafe nicht ein solches Aufheben zu machen. «Die Diskussion würde sich schnell ändern, wenn der Wolf regelmässig vor den Toren Zürichs oder Berns auftauchen würde.»
Vom Auftauchen sprach auch der zweite Bündner Ständeherr Martin Schmid (FDP), als er sich in der Kleinen Kammer für eine Lockerung des Schutzes stark machte. Dabei nannte er aber keine Orte abgelegener Wildheit, sondern berichtete davon, dass ein Bär in Lenzerheide über den Golfplatz spaziert sei und in Trin ein Wolf vor der Poststelle gestanden habe.
Leicht vergröbert zeichnet sich ein Gegensatz zwischen rechts und links und zwischen Bergkantonen und Stadtregionen ab. Es besteht die Tendenz, dass «Natur» dort am meisten verteidigt wird, wo sie am wenigsten vorhanden ist, derweil dort, wo es sie im Übermass gibt, ein nüchternes Verhältnis herrscht.
Die Zonen städtischer und alpiner Art lassen sich aber nicht mehr so einfach auseinanderhalten. Wie es Stadtbewohner gibt, denen Wölfe egal sind, gibt es auch in den Bergkantonen Menschen, die sich für einen rigorosen Wolfsschutz einsetzen.