«Ich habe mich selbst gehasst für diese Gefühle» – wie ein israelischer Jugendlicher dazu kam, den Bus wegen eines zugestiegenen Palästinensers zu verlassen.
Mein erster Blogeintrag soll einerseits einen Vorgeschmack auf die weiteren Beiträge dieses Blogs liefern, andererseits aber auch aufzeigen, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, «Mauerblumen» zu gestalten und weshalb es mir auch ein persönliches Bedürfnis ist, den Menschen in der Schweiz die Gesichter, Gefühle und Gedanken derjenigen Israelis und Araber nahezubringen, welche nicht in den Nachrichten zu sehen sind und oftmals sehr wenig bis überhaupt nichts mit jenen im Fernsehen gemein haben.
Nach meinen eigenen Erfahrungen im letzten Krieg zwischen Israel und Gaza im Sommer 2014 sprach ich oft mit meinem Freund – welcher aus Jerusalem kommt – darüber und wir kamen auch darauf zu sprechen, wie sich solch traumatische Erfahrungen auf die Kinder und somit die kommenden Generationen auswirken. Kann man es einem Kind aus Gaza verübeln, dass es Israel mitsamt seiner ganzen Bevölkerung hasst, wenn es womöglich nichts anderes als deren Bomben und Besatzung kennt?
Und was sagt man einem israelischen Kind, das ebenso Kriegserfahrungen machen musste in seinen ersten Jahren und das «die Palästinenser» für seine Albträume verantwortlich macht, wenn es doch tatsächlich Araber und nicht Israelis waren, welche ihm diese Bilder und Erinnerungen aufzwangen? Im Laufe dieses Gespräches erzählte mein Freund mir von einem eigenen Erlebnis, welches für mich sehr exemplarisch für die zuvor aufgekommenen Fragen steht:
«Ich sah plötzlich mein Leben wie ausgebreitet vor mir.»
«Die zweite Intifada war zwar seit kurzer Zeit vorbei, doch es lag noch immer eine grosse Anspannung in der Luft. Für mich war das nichts Neues, es gab solche Zeiten schon zuvor und ich habe mein Leben wie immer gelebt, wenn auch etwas überschattet durch diese Atmosphäre.»
«Eines Tages ging ich mit einer Freundin auf den Bus Nummer 18, der in der Vergangenheit traurige Berühmtheit erlangt hatte durch einige Busbomben. Wir kamen näher zum Stadtzentrum, der Bus füllte sich mehr und mehr. Ich sass in der letzten Reihe des Buses am Fenster, es war einer der alten Busse mit Fenstern, die man zur Seite schieben musste, um sie zu öffnen. Ich hörte plötzlich Schreie und Schläge an die Fahrzeugtür aus der Mitte des Busses. Ich erinnere mich, dass der Gedanken an eine Bombe mich durchzuckte und ich sah plötzlich mein Leben wie ausgebreitet vor mir, es war ein sehr starkes, schwer zu beschreibendes Gefühl. Instinktiv, ohne zu wissen, was mit mir geschah, sprang ich durch das Fenster. Als ich auf der Strasse landete, rannte ich sofort los, um so weit als möglich vom Bus weg zu sein, denn falls der Bus explodieren würde, würde es nicht reichen, nur hinauszuspringen.»
«Junge, zieh‘ mal deine Hosen rauf.»
«Nach einigen Metern hielt ich an, meine Hosen waren etwas heruntergerutscht, die Kleider dreckig und unordentlich. Ich hielt neben einem Café und ein Mann, der dort sass, sagte scherzhaft: «Junge, zieh’ mal deine Hosen rauf». Ich lächelte ihn an und dachte, dass er das wohl nicht sagen würde, wenn er wüsste, weshalb ich so aussehe. Von Weitem sah ich die Leute aus dem Bus steigen und mir wurde bewusst, dass alle diese Menschen tot wären, wenn wirklich eine Bombe im Bus gewesen wäre und ich war froh über die Erkenntnis, dass ich so gute Instinkte hatte. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass meine linke Hand zitterte und ich starke Schmerzen hatte – sie war gebrochen, aber ich hatte dies in der Aufregung gar nicht bemerkt. Letztendlich war im Bus nur ein «verdächtiger Gegenstand» gewesen, eine Tasche, die jemand vergessen hatte.»
«Einige Wochen danach war ich wieder im Bus. Ich sass dort und ein junger Mann betrat den Bus, ein Araber, und plötzlich kamen all die Gefühle von dem Erlebnis wieder hoch und ich verlor die Kontrolle über mich selbst, die Gefühle bestimmten mich. Ich schaute diesen arabischen Mann an. Er war einer unter vielen, es war nichts Auffälliges an ihm – aber sein Erscheinen löste plötzlich grosse Angst in mir aus.»
«Es ging nicht um diesen Mann als Individuum – er stand für die terroristischen Araber, für den ganzen Konflikt.»
«Wenn ich die traumatische Erfahrung einige Wochen zuvor nicht gemacht hätte, hätte der Mann keinerlei negative Gefühle in mir ausgelöst. Die Angst hatte auch nichts mit diesem Mann persönlich zu tun, sondern mit etwas Grösserem, er stand für die Araber. Für jene Araber, die immer wieder Busse in die Luft jagten und Anschläge verübten. Es ging um die ganze Situation, um den Konflikt. Die Angst wurde grösser und schliesslich war sie so stark, dass ich den Bus verlassen musste. Gleichzeitig fühlte ich mich furchtbar schlecht für meine eigenen Gefühle, denn dieser Mann hatte mir nichts getan und würde mir auch nichts tun wollen – aber er war mit einem Mal eins mit den arabischen Terroristen, die ich mit dem Trauma der Busbombe verband. Dieses Gefühl – die Angst vor einem Palästinenser – war mir vollkommen fremd und weit weg von der Gefühlswelt, in der ich mich normalerweise bewegte und in der es keinen Unterschied zwischen mir und einem Araber als Menschen gab.»
Nebst der persönlichen Ebene, auf welcher diese Worte mich tief berührt hatten, finde ich sie auch im Zusammenhang mit dem Konflikt sehr bemerkenswert und wichtig, und sie zeigen, dass es von hier aus – vor dem Fernseher und mit einem Bier in der Hand – leicht ist zu urteilen und zu verurteilen.
Zwar hat dieser erste Beitrag auch leicht politische Züge, jedenfalls beschäftigt er sich mit der Situation zwischen Israel und Palästina. Mit dem Blog möchte ich aber eigentlich wegkommen von der Politik und den Menschen in Israel und Palästina auch in der Schweiz das Gesicht geben, das sie eigentlich haben. Eines wie wir nämlich, Gesichter, hinter denen sich Wünsche, Träume, Ängste, Humor, Besonderheiten, Kummer und Hoffnungen verbergen, wie ein jeder von uns sie auch kennt.
Ein Mensch ist ein Mensch, ob er nun in Jerusalem, Bethlehem oder Basel lebt.