«Wer in Schwierigkeiten gerät, ist selbst schuld»

Chaim Howald hilft Studenten, eine Wohnung zu finden. Im grossen Interview erklärt der Wohnvermittler, weshalb die Gesellschaft lieber Studierenden hilft als Armutsbetroffenen oder Süchtigen. Und warum es dringend ein «Recht auf Wohnen» braucht.

Chaim Howald hilft Studenten, eine Wohnung zu finden. Im grossen Interview erklärt der Wohnvermittler, weshalb die Gesellschaft lieber Studierenden hilft als Armutsbetroffenen oder Süchtigen. Und warum es dringend ein «Recht auf Wohnen» braucht.

Am Mittwoch, 7. Juni, wird die kantonale Initiative «Recht auf Wohnen» eingereicht, die – nomen est omen – ein ebensolches Grundrecht in der Basler Verfassung fordert. Ein überzeugter Befürworter dieser Initiative ist Chaim Howald, Geschäftsführer des Vereins für Studentisches Wohnen (WoVe).

Als Student hat der Verfasser dieser Zeilen zwei Jahre lang in einem WoVe-Zimmer gelebt, so wie 550 andere Studierende und Lernende. Suchtkranke, Obdachlose und auch Alleinerziehende verfügen nicht über eine ähnliche Lobby in Wohnraumfragen. Howald erzählt im Interview, was er sich von der Initiative erhofft und was die Möglichkeiten und Grenzen einer Ausweitung der Instrumente der WoVe auf andere schutzbedürftige Mietergruppen bedeuten würden.

Chaim Howald, was heisst für Sie «Recht auf Wohnen»?


Ich bin überzeugt, dass der Kanton für eine Marktsituation sorgen müsste, in der jeder, der hier leben will oder muss, wohnen kann. Die Leerstandsquote hat sich in den letzten zwei Jahren minim verbessert, aber einkommensschwache Mieter spüren davon nichts. Obwohl Studierende verhältnismässig privilegiert sind, bekommen wir jedes Jahr Hunderte Anfragen von solchen, die Probleme haben, eine Unterkunft zu finden. Mich schockiert es, wenn Studierende die ersten zwei Monate des Herbstsemesters aus dem Bündner Landwasser-Tal nach Basel pendeln müssen. Das sind sieben Stunden Zugfahrt am Tag.

Wie sieht es bei anderen Anlaufstellen aus?

Bei Anlaufstellen für andere Anspruchsgruppen ist es ähnlich, wenn nicht noch schlimmer. Wir haben eine gute Lobby, denn es herrscht breite Einigkeit, dass Studierende und Lernende Unterkünfte brauchen. Das ist sicher einer der Gründe, weshalb wir so gut mit dem kantonalen Verwalter Immobilien Basel-Stadt zusammenarbeiten.

Weil Studierende nicht prekarisiert sind, haben Sie eine bessere Lobby?


In unserer Gesellschaft dominiert die Vorstellung, dass selbst die Schuld trägt, wer in Schwierigkeiten ist. Je besser die Schwierigkeiten erklärbar sind, desto höher ist die Akzeptanz. Wer keine Ausbildung abgeschlossen hat, verfügt über wenig Geld. Wenn die Prekarisierung aber auf eine ungewollte Schwangerschaft, Suchtprobleme oder plötzlichen Jobverlust zurückzuführen ist, reagiert ein Teil der Öffentlichkeit mit unterschwelliger Schuldzuweisung.

Müsste da nicht der Staat Verantwortung übernehmen? Tatsächlich übernimmt ein Grossteil des sozialen Wohnungsbaus die Stiftung Habitat, also eine private Stiftung.


Die Stiftung Habitat ist in meinen Augen fast die einzige Organisation, die wirklich versucht, zahlbaren Wohnraum für sämtliche Anspruchsgruppen zu schaffen. Aber bei den Grundbedürfnissen sollte natürlich der Staat in der Pflicht sein. Der Richtplan der Stadtplanung hat einen Horizont von 30 Jahren. Wer sagt mir, dass es in 20 Jahren noch Geldgeber gibt, die den sozialen Wohnungsbau fördern wollen?

Immobilien Basel-Stadt verwaltet im Raum Basel rund 4000 Wohnungen, die sich je zur Hälfte im Besitz des Kantons und im Besitz der Pensionskasse Basel-Stadt befinden. Immobilien Basel-Stadt könnte sich doch darauf fokussieren, Benachteiligten Wohnraum zur Verfügung zu stellen.


Laut ihrem Leitbild misst sich Immobilien Basel-Stadt mit vergleichbaren Firmen aus der Privatwirtschaft und erbringt professionelle Immobiliendienstleistungen. In der Regel hat ein professioneller Immobiliendienstleister primär die Optimierung der Rendite für den Inhaber zum Auftrag. Gleichzeitig trägt der Mandatsgeber die eigentliche Verantwortung; der Immobiliendienstleister muss die Renditevorgaben der Inhaberschaft umsetzen.

Sollte sich ein «Recht auf Wohnen» auf den Auftrag von Immobilien Basel-Stadt auswirken? 


Das weiss ich nicht. Es gibt viele Stellen, die bereits in einem Leistungsauftragsverhältnis mit dem Kanton stehen: der Schwarze Peter, die IG Wohnen, die Suchthilfe, die Jugendarbeit JuAr, Familea. Sie stehen teilweise in engerer Verbindung zum Sozialdepartement und all deren Klienten haben Probleme am Wohnungsmarkt. Darum geh ich davon aus, dass in verschiedenen Departementen verschiedene Lösungen entwickelt werden müssen. Die Initiative ist offen formuliert und ich masse mir die Entscheidung nicht an, ob sie der Kanton am besten mit Auflagen gegenüber den Bauherrschaften umsetzt. Ob er bei Immobilien Basel-Stadt ansetzt oder ob er den Anlaufstellen die Mittel zur Verfügung stellt. Also, ob es eine WoVe-ähnliche Institution beispielsweise auch für Alleinerziehende geben sollte.

Könnte man eine Organisation wie die WoVe für eine andere Klientel erweitern?


Dafür bräuchte es einen massiven Effort. Die WoVe gibt es seit 1970. Es bräuchte sicher ein breites Netzwerk, Strukturen und ein gewissen Budget. Alleine im Bereich Zwischennutzungen hat es Jahre gedauert, bis wir unser heutiges Netzwerk aufbauen konnten.

Sind Zwischennutzungen nicht vor allem eine Option für Leute in Ausbildung?


Jein. Natürlich sind sie nur Übergangslösungen. Aber für Personen ohne festen Wohnsitz wäre eine vernünftige Übergangslösung wertvoll – das sagt man mir auch im Schwarzen Peter. Ein Jahr lang einen Wohnsitz zu haben, eine feste Adresse zu haben, täglich duschen zu können. Das hat einen Wert. Der andere Aspekt ist der mietrechtliche: Schutzbedürftige Mieter geniessen gesonderten Mieterschutz.

Können Sie das erläutern?

Wir mussten auch schon ein bestimmtes Zimmer leer bekommen und konnten den Studierenden – also einen schutzbedürftigen Mieter – treffen, ihm unsere Liste mit freien Zimmern geben und sagen: «Jetzt suchst du dir was anderes aus!» Wir gaben ihm das neue Zimmer für die Zeit, in der er Anrecht auf Mieterstreckung gehabt hätte, freiwillig, aber er hätte es auch einfordern können.

Dieser Studierende hatte die Möglichkeit, aber wenn man jemandem helfen will, aus prekären Lebensumständen herauszukommen …

Wie schon gesagt: Es geht um Übergangslösungen. Übergangslösungen haben den wirtschaftlichen Nach- und den betrieblichen Vorteil, dass man häufige Mieterwechsel anstrebt. Das Ziel ist, dass diese Leute wieder auf dem freien Wohnungsmarkt Fuss fassen können. Aber natürlich wäre das nicht gratis und man bräuchte Personal, das mit häufigem Mieterwechsel umgehen kann. Jeder Mieterwechsel führt zu Übernutzung. Wenn du im Schnitt alle 0,9 Jahre einen Mieterwechsel hast, hält ein Anstrich nicht acht Jahre. Sollten Zwischennutzungen zum Thema werden, müsste man sich ein entsprechendes Netzwerk erarbeiten. Für Inhaber, die einen Neubau planen, sind die Leerstandskosten im Verhältnis so gering, dass es nur zwei Motive für Zwischennutzungen gibt: Verhindern einer Besetzung und sozialer Mehrwert.

Das Zürcher Unternehmen Projekt Interim GmbH hat erst letzten Monat am Burgweg Mieter für eine Zwischennutzung bis Anfang 2018 verdrängt.


Eine Non-Profit-Organisation würde in diesem Geschäft anders agieren. Die WoVe kann so sogar Wohnraum erschliessen, etwa das Restaurant Schützengarten in Riehen, das aus Hygienegründen nicht mehr Restaurant sein durfte. Mit einer Minimalrenovation haben wir die Angestelltenwohnung bewohnbar gemacht. Sonst wäre es als strategische Landreserve leer gestanden und so bieten wir neun Leuten vier Jahre lang eine komfortable Wohnsituation. Acht von ihnen zahlen Mieten von unter 400 Franken inklusive Nebenkosten. Das ist grundverschieden von jemandem, der mit dem Pinsel durch eine künftige Abbruchhütte rennt und die Maximalrendite erzielen will. 

Aber es bräuchte quasi eine «WoVe für alle», eine Zwischennutzungs-Non-Profit-Organisation, sonst sind Zwischennutzungen doch ein grausames Instrument …

… um die Gentrifizierung voranzutreiben. In einem Kostenmiete-Modell sind Zwischennutzungen aber eine gute Sache. Trotzdem würde ein «Recht auf Wohnen» angepasste Lösungen erfordern. Man kann kein Haus für 150 am Wohnungsmarkt Benachteiligte hinstellen und da 50 Suchtkranke, 20 psychisch Kranke und 10 Grossfamilien unterbringen. Ich versteh den Auftrag der Initiative so: Alle, die ihr euch mit Anspruchsgruppen beschäftigt, sollt die Verantwortung und Mittel erhalten, sie beim Wohnen zu unterstützen. Hoffentlich wären dann auch unsere Grossräte motiviert, die Regierung regelmässig an die Umsetzung zu erinnern. 

Recht auf Wohnen 


In der Schweiz fehlt bis heute ein verbindliches Grundrecht auf Wohnen. Was es für Armutsbetroffene, Ausländer und im Wohnungsmarkt zusätzlich spezifisch Benachteiligte, etwa Alleinerziehende, Verschuldete, Süchtige oder psychisch Kranke zunehmend schwieriger macht, eine Wohnung zu finden. Besonders in Städten herrscht Handlungsbedarf, so erreichte Basel-Stadt 2014 die rekordtiefe Leerstandsquote von 0,2 Prozent, bis 2016 hat sie sich auf 0,4 Prozent verbessert. Gegenüber einem Leerstand von 1,5 Prozent im Jahr 2005 ist diese Zahl aber weiterhin erschreckend niedrig.

Die kantonale Initiative «Recht auf Wohnen» möchte ein solches Grundrecht nun in die Kantonsverfassung schreiben. Lanciert wurde die Initiative vom Netzwerk Wohnungsnot, einem informellen Zusammenschluss der IG Wohnen, dem Schwarzen Peter, der Suchthilfe und Kirchenvertreterinnen wie Mirjam Baumann vom Sozialdienst der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde. Im Initiativkomitee «Recht auf Wohnen» finden sich mit der BastA!-Grossrätin Tonja Zürcher und der Riehener SP-Einwohnerrätin Regina Rahmen nur zwei Parteiexponentinnen. Unterstützung findet das Anliegen bisher bei SP, BastA!, dem Jungen Grünen Bündnis und den Juso.

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