Wie eine Maschine der Welt Dampf machte

Die Menschheit könnte heuer einen runden Geburtstag feiern – wäre ihr ums Feiern. Mit der Erfindung der Dampfpumpe wurde vor 300 Jahren der Grundstein für das fragile Konzept des immerwährenden Wirtschaftswachstums gelegt.

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Dampfmaschinen vor allem in ländlichen Gebieten genutzt. Im Bild: dampfbetriebener Mähdrescher in Chile (1954). (Bild: akg-images)

Die Menschheit könnte heuer einen runden Geburtstag feiern – wäre ihr ums Feiern. Mit der Erfindung der Dampfpumpe wurde vor 300 Jahren der Grundstein für das fragile Konzept des immerwährenden Wirtschaftswachstums gelegt.

Irgendwann im Jahre 1712 – ein ­genaues Datum ist nicht überliefert – baute Thomas Newcomen die erste ­Maschine, die Wärme in Arbeit umwandeln konnte. Das Zeitalter der fossilen Ener­gie begann. Die Dampfpumpe lief mit Kohle und diente dazu, Bergwerk­sstollen von eindringendem Grund­wasser leerzupumpen – um noch mehr Kohle zu fördern.

«Aus Kohle noch mehr Kohle machen»: Das ist mehr als ein saloppes Wortspiel. Die Dampfpumpe nahm gewissermassen das Geschäftsmodell der Finanzbranche vorweg. Dieses Modell funktioniert nur, wenn die allgemeine Erwartung lautet, dass es immer mehr Kohle (oder Rohstoffe) gibt – und dass die Wirtschaft wächst.

Gegen diese Erwartung spricht aber ein fundamentales Prinzip allen Wirtschaftens: Jedes Wachstum schmälert die Aussicht auf weiteres Wachstum. In der Kohleförderung hiess das: Je tiefer man grub, desto mehr Grundwasser drang in die Stollen ein. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo der Aufwand des Auspumpens grösser gewesen wäre als der Ertrag. Man konnte nur oberflächennahe Kohle fördern, und die wurde vor 300 Jahren, nach einem Boom im 17. Jahrhundert, knapp.

Wachstum für weiteres Wachstum

Doch dann kam die Dampfmaschine – und kehrte das ökonomische Grundprinzip ins Gegenteil: Je mehr Kohle man hatte, desto mehr Stollen konnte man leerpumpen, um noch mehr Kohle zu fördern. Wachstum erhöhte die Aussicht auf weiteres Wachstum. In der Ökonomie heisst dieses Prinzip Skalenprinzip. Es ist die Grundlage des langfristigen Wirtschaftswachstums. Irgendwann im 19. Jahrhundert begann das Skalenprinzip so normal zu werden, dass die Ökonomen vergassen, dass Grenzen nie aufgehoben, sondern immer nur hinausgeschoben werden.

Die Ära, die damals begann und im 19. Jahrhundert dank Erdöl und Erdgas weitere Dynamik gewann, war das Zeitalter extrem billiger Energie. Heute befinden wir uns in dessen Spätphase. Denn egal, wie man sich im Streit, wie lange das schwarze Gold noch reicht, positioniert: Die Zeit des billigen Öls, wie wir es noch am Ende des 20. Jahrhunderts kannten, ist vorbei. Und auch in Sachen billiger Kohle und billigem Gas dürfte es bald eng werden.

Glauben wir Umweltforschern, die vor einem katastrophalen Klimawandel warnen, müssen wir uns ohnehin rasch von diesen fossilen Energie­trägern verabschieden – noch bevor sie uns ausgehen. Natürlich gibt es Ersatz: Wind, Sonne, Erdwärme. Aber die Eigenschaften, die die fossilen Energieträger so ideal machten, hat die neue nachhaltige Energie nicht: Kohle und Öl kommen hoch konzentriert vor und lassen sich leicht gewinnen, lagern und transportieren.

Die Bilanz des fossilen Zeitalters

Wie fällt nun also die Bilanz des fos­silen Zeitalters aus, das mit der Erfindung der Dampfmaschine eingeläutet wurde? Etwas, was ihr oft zugeschrieben wird, hat die Dampfmaschine sicher nicht erreicht: Sie hat nicht die «industrielle Revolution» ausgelöst. Diese nahm zwar um 1760 ebenfalls in England ihren Anfang – aber nicht dank Dampf-, sondern dank Wasser- und menschlicher Arbeitskraft.

Erst 1784 erfand James Watt die Dampfmaschine neu und machte sie fabriktauglich. Erst von da an wurde die Dampfmaschine zur Treiberin der Industrialisierung. In Verbindung mit der Lokomotive – der Dampfmaschine auf Rädern – entfaltete die Kohle ihr volles Potenzial: Energie liess sich nun leicht über grosse Strecken transportieren. Im Unterschied zur Schweiz, wo die Fabriken den energiespendenden Flüssen entlang in Glarus, im Zürcher Oberland oder in der Ostschweiz entstanden, kam es in England zu Indu­strieballungen. Die Kohle hat, in den Worten des 2010 verstorbenen deutschen Energiepolitikers Hermann Scheer, die «Räume der Energieförderung von den Räumen des Energiekonsums entkoppelt».

Die Frühzeit der Industrialisierung gilt auch als Ära, in der sich die wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaf­ten der Moderne durchzusetzen begannen: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Menschenrechte. Alles dank der neuen Energie, die die Menschen von der Geis­sel schwerer Arbeit befreite? So einfach liegen die Dinge selten in der Geschichte.

Die Industrialisierung war zunächst nur für die, die über die neuen Ma­schinen verfügten, ein Segen. Bis etwa 1850 «nahm die Lebenserwartung in England ab und entfernte sich von dem hohen Niveau, das England schon einmal zur Zeit Shakespeares erreicht hatte», schreibt der Universalhistoriker Jürgen Osterhammel. In Deutschland kam mit der Industrialisierung der Begriff des Pauperismus, der Massenarmut, auf.

Die Tücken der Technik

Und selbst die archaischste aller Energieformen – die menschliche Arbeitskraft – erreichte mit dem Aufkommen der neuen Energie erst ihren grausamen Höhepunkt: Je leistungsfähiger Europas Textilfabriken wurden, desto mehr Baumwolle brauchten sie. Die Baumwolle aber wurde in den über­seeischen Plantagen mit Sklavenarbeit produziert. Man beobachtet das häufig in der Geschichte der Technik: Statt die alten Techniken zu ersetzen, gesellen sich die neuen zunächst hinzu. So hat auch die Zahl der Transportpferde wegen der Eisenbahn stark zugenommen, in England bis etwa 1930. Am meisten Pferde besas­sen die Eisenbahngesellschaften. Denn je mehr mit der Eisenbahn über lange Strecken transportiert wurde, desto mehr wuchs auch der Zubringerverkehr auf den kurzen Strecken.

Die Dampfmaschine hat die Welt nicht von der Sklavenarbeit befreit, wie das oft verkürzt behauptet wird, aber sie hat die gesellschaftlichen Grund­lagen dafür geschaffen. Denn je wohlhabender diejenigen Menschen wurden, die von der neuen Energie profitierten, desto obszöner erschien es, Sklaven für den neuen Reichtum schuften zu lassen. «Die Sklaverei war in jenem Moment dem Untergang geweiht», schreibt Jürgen Osterhammel, «als mit jedem Löffelgriff in die Zuckerdose das Seufzen der fernen und unsichtbaren Sklaven zu ertönen schien.» Fossile Energie, Industrialisierung und Wirtschaftswachstum verhalfen den Werten der Moderne nicht von allein zum Durchbruch. Aber sie erleichterten ihren Siegeszug.

Energiemultis regieren die Welt

Dieser Fortschritt hatte aber auch damit zu tun, dass die Mächtigen jetzt friedlich erreichen konnten, wozu sie zuvor Gewalt gebraucht hatten. Wer über Energie verfügt, kann diese einsetzen, um seine Macht weiter auszubauen. Und wo die Energieströme kontrolliert werden, ballt sich die ökonomische Macht. Nicht zufällig entfaltete der Energiesektor die grösste Tendenz zum Monopolkapitalismus. Das Kartellrecht wurde in den USA am Ende des 19. Jahrhunderts gegen einen Energie­unternehmer entwickelt – gegen den Erdölmagnaten John Rockefeller. Heute sind sieben der zehn umsatzstärksten Konzerne der Welt Energieunternehmen: sechs Erdöl- und Erdgaskonzerne und ein Stromnetzbetreiber.

Im 19. Jahrhundert gab es das Schimpfwort des «Dampfmaschinenkapitalismus». Und es gab den Traum, diesen durch neue Energie zu überwinden: 1882 nahm das erste Stromkraftwerk (natürlich dampfgetrieben) seinen Betrieb auf. Der neue Energieträger stand für das Leichte, das Helle und das Saubere. Und der Strom hatte das Zeug zur dezentralen Nutzung.
Doch die Strukturen, die mit der Kohle gewachsen waren, waren schon so verfestigt, dass die Stromnutzung ihnen folgte – zentralisiert statt dezentral, mit grossen Kraftwerken und Energietransporten über weite Strecken. Heute sind Atomkraftwerke «dampfmaschinenkapitalistischer» als die Dampfmaschine, und die grössten Bauwerke der Menschheit sind Wasserkraftwerke.

Wie geht es weiter? Die natürlichen Ressourcen schwinden, es droht eine energetische Krise. Ähnlich war es vor 300 Jahren. Doch dann erschloss sich Europa in Form der Kohle eine neue, billige Energiequelle und überwand die Krise. Rolf Peter Sieferle, Umwelt­historiker an der Universität St. Gallen, spricht vom Anbruch eines neuen «Energieregimes», das in seiner Bedeutung vergleichbar ist mit der Erfindung der Landwirtschaft. Wären die Grenzen des damaligen, vor-fossilen Energieregimes nicht gesprengt worden, so «hätte man mit einem lang­wierigen Tauziehen um Macht und Ressourcen in einer Dramatik rechnen können, wie sie sich wohl erst gegen Ende des fossilen Energiesystems in ­einer überbevölkerten Welt einstellen wird.» Also demnächst.

«Demokratisierte» Energie

Das ist düster. Doch vielleicht gelingt es, die Errungenschaften der Moderne in ein postfossiles Zeitalter hinüber­zuretten und gleich auch noch die mit den alten fossilen Energien verbundenen Machtkonzentrationen zu überwinden. Zahlreiche Cleantech-Pro­pheten sind überzeugt davon. Der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin sieht schon eine Wirtschaft ohne Hierarchien dämmern.

Tatsächlich bieten die erneuerbaren Energien alle Chancen für eine völlig neuartige, dezentrale, «demokrati­sierte» Energieversorgung, denn die erneuerbaren Energien liegen nicht hoch konzentriert an relativ wenigen Stellen vor, sondern in geringer Konzentration fast überall. Doch die Vorstellung, die auf Kohle, Öl und Gas gebaute Industrie würde verschwinden, sobald genug Windräder und Solarpanels aufgestellt sind, dürfte sich als trügerisch erweisen.

Die Sklavenhalter hätten auch noch lange mit Profit weitergemacht, hätten die Abnehmer ihrer Produkte sie nicht zum Aufhören gezwungen. Und wenn sich die Energiewende in den vorhandenen Strukturen vollzieht, mit Offshore-Windparks und riesigen Solaranlagen in der Wüste, wird der «Dampfmaschinenkapitalismus» weiter fortgeführt werden – wie weiland bei der Einführung des elektrischen Stroms. Bloss den Schalter um­legen von fossil auf erneuerbar: So leicht wird man mit einem 300-jährigen Geist nicht fertig.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.02.12

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