Wie Verführer unser Gehirn manipulieren

Immer wieder bringen uns andere Menschen dazu, das zu tun, was sie wollen. Wir sind anfällig für diese Manipulationen, da wir viele Entscheidungen aufgrund eingeübter Faustregeln treffen.

Manipulation nutzt unsere Herdentier-Mentalität aus: Zum Verführen gehört, die Selbsttäuschung anzureizen. (Bild: Michael Birchmeier)

Immer wieder bringen uns andere Menschen dazu, das zu tun, was sie wollen. Wir sind anfällig für diese Manipulationen, da wir viele Entscheidungen aufgrund eingeübter Faustregeln treffen.

Das Baby schreit, die Zeugen Jehovas klingeln an der Tür. Die Gattin will den Abfall rausgetragen haben, die Tochter will länger aufbleiben. 

Wie oft pro Tag will jemand etwas von uns, will uns überreden und überzeugen? Vielleicht 20- oder 30-mal, würden die meisten Menschen schätzen. Psychologen haben das untersucht: Es geschieht 400-mal am Tag.

So erschreckend das klingen mag, so zeigt es auch, dass wir von den meisten Beeinflussungsversuchen nichts mitbekommen. Menschen und ihre Bot­schaften manipulieren wirkungsvoll unser Unbewusstes.

Meister darin sind Neugeborene. Hilf- und schutzlos sind sie – doch wenn sie brüllen, springen wir ohne Zögern auch aus dem Tiefschlaf auf. Die Hirnforschung zeigt, dass wir gar nicht anders können: Babygeschrei steigert die Gehirnaktivität im Angst- und Gefühlszentrum, der Amygdala, sowie in einem Teil der Hirnrinde, der auf Normabweichungen reagiert. Das Weinen wirkt wie ein Feueralarm.

In komplexeren Situationen genügen solche Reflexe jedoch nicht. Wenn wir einen Fremden treffen oder an eine Strassenkreuzung fahren, müssen Entscheidungen innert Sekunden fallen. Also überwachen wir unsere Umwelt, ziehen Schlüsse aus ihr und entwickeln Schemata, die auch ohne präzise Informationen funktionieren. Wir urteilen im Autopilot.

Statt zu grübeln, wenden wir ein­fache Regeln an – zum Beispiel, dass teure Dinge besser sind. Forscher des California Institute of Technology kredenzten Testern einen mittelmässigen Wein mal mit Zehn-Dollar-Etikett, mal mit einem 90-Dollar-Schild. Welcher Wein schmeckte ihnen besser? Klar, der teurere.

«Solche Verhaltensregeln erleichtern uns ­vieles», sagt der Marketingpro­fessor Claude Messner von der Uni­versität Bern. Mit seiner Kollegin Michaela Wänke zeigt er in einer neuen Unter­suchung, dass unbewusste Prozesse die Qual der Wahl lindern: Testern schmeckte eine Praline besser, wenn sie bei der Auswahl abgelenkt wurden und darum nicht reiflich nachdenken konnten.

Autopilot mit Tücken

Der Autopilot hat aber auch Tücken. US-Psychologen baten Testpersonen, die Intel­ligenz eines Mädchens zu schätzen, das eine Mathematikaufgabe zu lösen hatte. Der einen Gruppe erzählten sie, dass das Mädchen aus der Unterschicht stamme, der anderen, dass es aus gehobenen Verhältnissen komme. Die zweite Gruppe hielt das Kind für deutlich intelligenter.

Stereotypen und Vorurteile werden zur selbsterfüllenden Prophezeihung: Schwarze Amerikaner schnitten in ­einem Einstufungstest schlechter ab als weisse, wenn sie zuvor ihre Ethnie angeben mussten. Ohne diese Angabe waren die Resultate ausgeglichen.

1978 begingen im Dschungel von Guyana 900 Sektenmitglieder Massenselbstmord, nachdem sie mehrere Jahre lang von Sektenführer Jim Jones ­einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren. Wie ist so etwas möglich?

Der Mensch ist ein Herdentier und kann sozialen Zwängen schwer widerstehen. Wie absurd das sein kann, zeigte der US-Psychologe Solomon Ash schon vor Jahren: Bei einer simplen Aufgabe sollten die Längen von Linien verglichen werden. Drei von vier Testpersonen nannten die offensichtlich falsche Lösung, wenn die übrigen, in den Versuch eingeweihten Teammitglieder auf der falschen Lösung beharrten.

Der britische Psychologe Kevin Dutton spürt in seinem Buch «Gehirnflüsterer» den Tricks der Verführer nach. Er identifiziert drei Grund­pfeiler: Aufmerksamkeit fesseln, Erwartungen wecken, Nähe herstellen. Wer misstraut dem netten Mann an der Haustüre, der die Uniform der Stadtwerke trägt und einem Komplimente macht? Ablenkungsmanöver sind ein klassischer Betrügertrick, denn das Gehirn hat Mühe, zwei Dinge gleichzeitig zu verarbeiten.

Verführerische Anerkennung

Werbung dagegen verheisst, gewisse Bedürfnisse zu stillen. «Wir wählen ein Produkt, wenn es ein Attribut verspricht, das uns wichtig ist», sagt ­Messner. Meistens ist das soziale Anerkennung: Das Parfüm verspricht Sex­appeal, die Hautcreme Schönheit. Auch Politiker bedienen tiefe Bedürfnisse, erklärt der Zürcher Politphilosoph ­Georg Kohler, etwa sich einer Gruppe zugehörig fühlen. «Zum Verführen gehört die Fähigkeit, die Selbsttäuschung der Leute anzureizen», so Kohler. Man mache sich vor, zu den Wichtigen zu gehören.

Besonders leicht sind wir durch soziale Normen zu beeinflussen. Legendär ist das Experiment des US-Psychologie- und Marketingprofessors Robert Cialdini, der Passanten zu einem Zoobesuch mit straffälligen Jugendlichen überreden wollte. Fast alle lehnten ab. Beim zweiten Anlauf fragte Cialdini zu­erst, ob die Passanten jede Woche zwei Stunden als ehrenamtliche Berater im Gefängnis arbeiten würden. Keiner wollte. Dann fragte Cialdini, ob sie stattdessen einen Zoobesuch mit straffälligen Jungen machen würden. Und tatsächlich sagten dreimal mehr Leute zu als im ersten Versuch. Sie fühlten sich zum Entgegenkommen verpflichtet.

Auch Humor stellt emotionale Nähe her. Überraschende Wendungen lassen unsere Gehirne in Glückshormonen baden, was Sympathie erzeugt. Kein Wunder, setzt fast jede zweite Werbung auf Witz. Welcher Bettler erhält wohl mehr Geld – der mit dem Schild «Hungrig und obdachlos. Bitte helfen Sie»? Oder der mit «Warum lügen? Ich will Bier»?
Weniger amüsant ist es, wenn der menschliche Autopilot im Gerichtssaal sein Unwesen treibt. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass attraktive ­Angeklagte mildere Strafen erhalten, Angehörige der «falschen» Ethnie ­härtere. Vorbestrafte werden häufiger schuldig gesprochen. «Solche Urteilsschlüsse verstossen gegen gesetzliche Regeln und ethische Prinzipien», sagt die Psychologieprofessorin Margit Oswald von der Universität Bern, die solche nicht-legalen Einflüsse untersucht.

Richter lassen sich manipulieren

Nicht einmal erfahrene Richter sind immun, wiesen Psychologen aus Würzburg und Köln nach. Während sie einen hypothetischen Vergewaltigungsfall bearbeiteten, sollten sich die Richter den Anruf eines Journalisten vorstellen. Die eine Gruppe fragte der Journalist «Wird die Strafe höher oder niedriger als drei Jahre ausfallen?», die zweite, ob sie höher oder niedriger als ein Jahr würde. Die erste Gruppe verknurrte den Vergewaltiger zu 33, die zweite nur zu 25 Monaten Haft.

Zum Glück gibt es Möglichkeiten, Vorurteile und Urteilsverzerrungen zu überwinden. Zum Beispiel, wenn auf die eher intuitive Urteilsbildung eine zweite Phase des bewussten Nachdenkens folgt. Dabei kann von aussen nachgeholfen werden, etwa indem die Richter sich für ihr Urteil zu verantworten haben, durch Gruppendiskussionen oder die direkte Aufforderung, doch bitte rational zu urteilen.

Ein manipulierbares Gehirn hat aber auch sein Gutes. Wir können andere Menschen zum Umdenken be­wegen – und sogar uns selbst, etwa in einer Psychotherapie. «Eine Möglichkeit ist, bei eingeschliffenen Handlungsabläufen anzusetzen», sagt Messner. Für gelungen hält er etwa eine Anti-Aids-Kampagne, die Liebesorte wie ein Bärenfell vor dem Kamin oder ein zerwühltes Bett jeweils mit dem Slogan «Machs mit» zeigt: Dies hilft, die neue Handlung – ein Kondom benutzen – in der richtigen Situation in Erinnerung zu rufen und in jenes Muster einzu­bauen, wo sie hingehört: mitten ins Liebesspiel.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11

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