Wo der Handball blüht

In Möhlin ist die Begeisterung für den Handball ungebrochen, so als steckte der Sport nicht in einer nationalen Krise. Was wird da richtig gemacht? Eine Erkundung auf dem Dorf.

FOTO: STEFAN BOHRER; ORT: Möhlin - 10.11.12: Reportage über die Handballmannschaft von Möhlin. (Bild: Stefan Bohrer)

In Möhlin ist die Begeisterung für den Handball ungebrochen, so als steckte der Sport nicht in einer nationalen Krise. Was wird da richtig gemacht? Eine Erkundung auf dem Dorf.

«Schnell, such mir den Paul!», raunt mir Marcus Hock mit schmerzverzerrtem Gesicht zu. Es ist Halbzeitpause in der Möhlemer Steinli-Halle, wir befinden uns im Eingangsbereich, der gleich unter dem Spielfeld liegt. Neben uns gehen Hot Dogs und Bier über den Tresen, um uns herum diskutiert die Zuschauermenge eine hitzige erste Halbzeit Handball.

Der deutsche Starspieler des TV Möhlin greift sich in den Rücken, fiebrig versucht er den Mannschaftsleiter Paul Hürbin ausfindig zu machen. Der TV Möhlin führt in der siebten NLB-Partie der laufenden Saison mit 12:9 gegen den Tabellennachbarn HSG Siggenthal/Vom Stein. Eine seiner letzten Aktionen blockierte Hocks Rückenmuskulatur, er braucht die Physiotherapeutin – und zwar sofort.

Die unmittelbare Erfahrung macht den Handball in Möhlin zum Erlebnis. Das «Steinli» gilt hier als fast magischer Ort. In dieser Halle, die nach neuen Vorgaben des Schweizer Handball-Verbands eigentlich zu klein ist, verdichtet sich der Geist eines über zehn Kilometer langen 10’000-Seelen-Dorfs. Wo das Land weit ist, da haben die Leute hin und wieder das Bedürfnis, zusammenzurücken: Die Tribüne ist auch an diesem Samstagabend mit über 520 Zuschauern voll.

Jahrzehntealter Geruch von Schweiss und Harz

Uns ver­binden die harte Sitzunterlage, der an den Wänden hängende, jahrzehnte­alte Geruch von Schweiss und Harz, die drückende Wärme, die sich nach wenigen Minuten über uns legt, der hohe Lärmpegel, die Emotionalität des kampfbetonten Spiels. Als un­beteiligter Beobachter ins «Steinli» zu kommen ist leicht, als das hinauszu­gehen fast unmöglich.

Der Handball-Sport in der Schweiz darbt. Die besten Tage der Nationalmannschaft sind lange gezählt, die Clubs beklagen Nachwuchsprobleme, Zuschauer und Sponsoren bleiben mehrheitlich fern. Als Exempel muss der RTV Basel herhalten. Kaum Geld, kaum Publikum und zuletzt kaum Punkte: Dem A-Ligisten, der die Juniorenförderung unlängst ausgelagert hat, droht der sportliche Abstieg und der Verlust jeglicher soziokultureller Bedeutung. Es muss nicht mühevoll nach Gründen gesucht werden. Das grosse Übel auf nationaler Ebene ist vermutlich ganz profan: Der Handball ist nicht mehr zeitgemäss.

Der Möhlemer Spezialfall

Was in Möhlin geschieht, das dürfte es also gar nicht geben. Als Aufsteiger führt der Verein die Zuschauerstatistik in der zweithöchsten landesweiten Liga unangefochten an, in der Nationalliga A läge er mit dem zwischen­zeitlichen Wert von 510 Zuschauern auf dem fünften Platz. Noch im Frühling, anlässlich der Aufstiegsspiele, fanden sich bis zu 1200 Anhänger im bis zum Bersten vollen «Steinli» ein. Wer das zu erklären versucht, der beschreibt folglich nicht die grosse Entwicklung im Kleinen, sondern einen Spezialfall. Und ein Spezialfall kann nur bedingt als Lehrstück gelten.

Die zweite Halbzeit läuft. Der TV Möhlin zieht in Windeseile auf 16:10 davon, die Sache scheint gelaufen. Doch der am Spielfeldrand sich in ­Behandlung befindliche Hock, zwei­facher Torschützenkönig der zweiten Bundesliga und unangefochtener ­Top-Skorer der laufenden NLB-Saison, muss mitansehen, wie die Führung seiner Teamkollegen nach und nach schmilzt.

Es bleibt noch ein Tor Vorsprung. Eine Viertelstunde vor Schluss ist Hock zurück im Möhlemer Spiel. Die Stimmung ist angeheizt, neben wie auf den Rängen. Es ist ja auch so etwas wie ein Aargauer Derby. Es war dieser Gegner aus der Nähe von Baden, der Möhlin vor anderthalb Jahren den NLB-Aufstieg in der Direktbegegnung vor der Nase weggeschnappt hatte.

Im Guinness-Buch der Rekorde

Die emotionale Betroffenheit, die diese Gemeinde umfängt, wenn es um die erste Handballmannschaft geht, warum es sich für viele einfach gehört, an den Spielen dabei zu sein – das hat, wie so vieles, mit der Kraft der Geschichte zu tun. Der Turn­betrieb rückte beim 1893 gegründeten TV Möhlin in den 1960er-Jahren sukzessive in den Hintergrund zugunsten des Handballs, der schon seit gut 20 Jahren gespielt worden war. Bereits damals rühmten die Zeitungen Möhlin als «Handball-Hochburg».

Das spitzte sich mit dem Bau der Steinli-Halle im Jahr 1969 zu. Fortan konzentrierte sich der Verein nicht länger auf das Spiel auf dem Grossfeld, sondern auf die modernere, sich in der Turnhalle abspielende Variante. 1970 gelang der erstmalige Aufstieg in die NLA. Im «Steinli» wurden gut besuchte Ländervergleiche ausgetragen, mit im Nationalteam waren Spieler vom eigenen Verein wie Peter Soder, Heinz Mahrer oder Rudolf Hasler. 1983 liess die dritte Mannschaft aufhorchen: Sie spielte 18 Stunden Handball am Stück und trug sich und den Endstand von 315:256 Toren ins ­Guinness-Buch der Rekorde ein.

Mit der ersten Mannschaft ging es über die Jahrzehnte auf und wieder ab, von der höchsten Liga zurück in die erste und wieder hinauf. Auf ­dieser Reise steuerten den TV Möhlin unter anderem Figuren wie Mihajlo Bojovic oder Lars Gjöls-Andersen. Nachdem er sich über Jahre in der NLB gehalten hatte, sackte der TV Möhlin 2004 in die erste Liga ab. In diesem Frühjahr gelang der Wiederaufstieg. Mit der Verpflichtung der deutschen Handball-Legende Wolfgang Böhme als Trainer und dem ehemaligen Bundesligaspieler Marcus Hock schreibt Präsident Peter Stalder derzeit das nächste Kapitel in der ­Vereinsgeschichte.

Die Vereinskultur strahlt mit voller Lebenskraft

Es ist eine Ungleichzeitigkeit im Gleichzeitigen, die das Gefüge in Möhlin bestimmt. Anders als in der Stadt, wo sich die Vereinskultur diversifiziert und zersetzt, strahlt sie in Möhlin mit voller Lebenskraft. Die Jugend wird früh abgeholt, in den Verein integriert, an ihn gebunden. In diesem Sinn zeigt sich in Möhlin eine Schweiz von früher. Also ist es nicht nur die Geschichte, die die Wirkmächtigkeit des Handballs in Möhlin erklärt, sondern auch ihr scheinbares Ende. Und eben die Ortsspezifität: Es gäbe halt keine ­Sehenswürdigkeiten hier und für die Kultur reise man in die Stadt, sagt ­Gemeindeammann Fredy Böni.

Das Dorf im Fricktal hält sich an seine Stärken. Die liegen einerseits in der Bata-Kolonie, also allem, was mit der traditionsreichen Schuhfabrik im Zusammenhang steht. Und diese Stärken liegen weniger in einem unverwechselbaren Dorfbild, einer ruhmreichen Historie oder dem kulturellen Angebot – sondern im «Steinli», im Sport. Feste feiern, das sei immer ein wichtiger Bestandteil des Lebens in Möhlin gewesen, sagt Stalder. Und ist es heute noch. Im «Steinli» lässt sich das ganz wunderbar vereinen.

500 Mitglieder, 300’000 Franken Budget

In der Saison 2012/13 zählt der ­TV Möhlin rund 500 Mitglieder, und er operiert mit einem Budget von 300’000 Franken. Auf zwei Ebenen ist er breit abgestützt: «Sollte ich ­morgen unters Tram kommen, dann macht ein anderer meinen Job», sagt Stalder. Dem Vorstand gelingt ein heikler Zweisprung: Jedes Mitglied fühlt sich als wichtiger Bestandteil, ist aber zugleich jederzeit ersetzbar. Events wie die erfolgreiche «BARanoia», eine vom TV Möhlin jährlich organisierte Party, spülen nicht nur Geld in die Vereinskasse, sie binden auch an den Club und stiften ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

So entsteht eine sich eigenständig weiterentwickelnde Subkultur innerhalb des Vereins. Zudem zählt er nicht einige wenige finanzkräftige Gönner und Sponsoren, sondern deren viele: «Die ganze Region will eben dabei sein», sagt Stalder. Hier gilt dasselbe: Steigt doch einer aus, fängt der Rest die entstandene Lücke im Budget auf.

Zurück am Schauplatz «Steinli». Die Spannung steigt, die Teams liefern sich einen äusserst spannenden, wenn auch unschönen Schlagabtausch. Das Skore, das zu Beginn der Partie nur mit klebriger Langsamkeit stieg (5:4 stand es nach der ersten Viertelstunde), schnellt nun in die Höhe: 18:17, 18:18, 19:18, 19:19, 20:19, 21:19.

Sympathische Erklärungsnot

Bei Möhlin spielen Alexander Milovanovic und Ivan Golubovic. ­Beide sind sie ehemalige RTV-Akteure. Ersterer wurde bei den Realturnern vor zwei Jahren ausrangiert. Letzterer hat sich, nach einer Probezeit mit Doppellizenz, nun ganz für den Club im Aargau entschieden und versucht hier Fuss zu fassen. «Es ist unglaublich, was wir hier erleben, diese Begeisterung für den Sport», schwärmt Milovanovic nach der Partie. «Ich spiele zurzeit den besten Handball meines Lebens, und das kommt nicht von ungefähr.»

Diese Begeisterung, sie lässt sich schwer erklären. Böhme, der Möhlemer Trainer von Weltniveau, hat schon einiges gesehen. Trotzdem fragt er Stalder immer wieder: «Weisst du eigentlich, was du hier hast?»

Der Präsident weiss es und auch wieder nicht. Es gibt diesen Überschuss, diese Erklärungsnot. Und die ist ganz sympathisch. In zwei Jahren soll eine neue Halle stehen, gleich ­neben dem altehrwürdigen «Steinli». Eine, die allen Vorgaben entspricht. «Dann dürfen wir in der obersten Liga mitspielen», freut sich Stalder.

Glückliche Umstände und eine gesunde Portion Eigendynamik

Eine vom Verein dementsprechend klar formulierte Vorwärts­strategie gibt es aber nicht. «Nein, das auch wieder nicht. Wir haben zwar einen Plan, aber der kennt viele Varianten.» Hier ist etwas über Jahrzehnte gewachsen, gewiss dank glücklicher Umstände und einer gesunden Portion Eigen­dynamik, aber auch durch viel Herzensarbeit und wohl nicht wenig Unter­nehmens­geschick.

Nun reisst es die Fans von den Bänken. Die letzten beiden Minuten laufen, der TV Möhlin erhöht auf 24:22, und Hock sowie Milovanovic legen nach zum 26:22-Endresultat. Jede Aktion wird bejubelt, das Publikum springt in die Höhe und klatscht im Takt. Der TV Möhlin steigt auf den sechsten Tabellenplatz.

«Ich weiss nicht, wo es sonst eine solche Stimmung gibt», sagt Hock, «es ist eine verrückte Atmosphäre. Wir haben diese Saison noch kein Spiel verloren zu Hause. Die Zuschauer tragen uns mit.» Zum Abschied reicht er mir seine Hand, klebrig vom Harz und feucht vom Schweiss, wie sie ist.

Mit seinem Zuschauerzuspruch von 510 Be­suchern pro Heimspiel würde der TV Möhlin in der Nationalliga A Platz fünf belegen. In der höchsten Klasse hat St. Otmar St. Gallen den besten Schnitt mit 883 Zuschauern; Branchenriese Kadetten Schaffhausen kommt auf gerade einmal 325 (Platz 6), der RTV Basel auf 240 und Fortitudo Gossau ist im Ranking Zehnter und Letzter mit 225 Besuchern.

Zuschauer in der Handball-NLB der Männer
Club Spiele Total Schnitt
TV Möhlin 4 2040 510
BSV Stans 2 900 450
TV Endingen 4 1735 433
HC KTV Altdorf 4 1500 375
HSC Suhr Aarau 4 1005 251
TV Zofingen 4 1000 250
HC Horgen 2 400 200
HSG Siggenthal 3 555 185
HS Biel 3 500 166
SG Solothurn 3 440 146
CS Chênois 4 420 105
Yellow Winterthur 5 516 103
SG Kadetten Espoirs 3 210 70
GC Amicitia 4 270 67

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.11.12

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