Nach zwei Tagen im Engadin wissen wir: Die Schweiz ist ja doch schön.
Wäre die Hölle bestuhlt, sie würde so aussehen wie der Speisesaal des Hotels Roi Soleil am Rande von St. Moritz-Bad. Nicht nur haben die katzenbeigebraunen Stühle derart viele Querstreben, dass der Blick etwa so zu flirren beginnt wie beim vergeblichen Versuch, in den Nullerjahren auf einer Tischserviette ein dreidimensionales Rivella zu entdecken. Nein, schlimmer noch: Es hat so viele Stühle in diesem Speisesaal und sie stehen so eng (die Streben! die Streben!), dass es so gut wie unmöglich ist, an der «Soirée traditionelle» zu den fritierten Froschschenkeln und der gestopften Entenleber zu gelangen (das Hotel gehört zu Club Med und ist durch und durch französisch. Essen, Gäste, Angestellte, alles).
Aber: Wir klagen hier auf hohem Niveau. Der Besuch in St. Moritz ist nur dank eines Gutscheins eines sehr geschätzten Verwandten möglich gewesen, und ehrlich gesagt kamen wir ja auch nicht der Froschschenkel wegen ins Engadin.
Und darum beginnt an dieser Stelle das Hohelied des Engadins. Wäre der Himmel eine echte Option, er würde wohl so aussehen wie die Gegend rund um St. Moritz. Da musste man über 30 Jahre alt werden, in unzähligen Artikeln die Hässlichkeit der zugebauten Schweiz beklagen, bevor einem auf dieser Hochebene gezeigt wurde, wie falsch man lag.
Die Schweiz ist ja doch schön.
St. Moritz selber ist da nicht unbedingt mitgemeint. Es hat tatsächlich Frauen in Pelz, auf dem Pferdepolo-See sonnen sich Reiche (und solche, die dafür gehalten werden wollen) vor einem etwas schäbigen Plastikzelt, und den Turm von Marquard haben wir auch gesehen. Bezaubernd wird es aber erst, wenn man zwei Schritte aus St. Moritz heraus macht. Wir spazieren nach Silvaplana, an der hölzernen Skisprungschanze vorbei, durch Wälder und dem Fluss entlang und lächeln selig. Wir spazieren von Sils Maria nach Isola und staunen nur noch. Die Weite, das Licht, die Luft, die Ruhe. Gopf. Warum sind wir nicht schon früher gekommen?
Fast noch schöner ist der Aufstieg von Pontresina durchs autofreie Val Roseg zum Roseggletscher. Wanderer, Langläufer und Pferdekutschen teilen sich die sieben Kilometer Winterzauber-Kitsch. Von den Bäumen rieselt der Schnee, die Eichhörnchen hüpfen über den Spazierweg, alles glitzert und blinkt und glänzt.
Auf dem Rückweg gönnen wir uns eine Fahrt mit der Pferdekutsche und werden dafür mit einem Stück Klischee-St. Moritz belohnt. Auf dem Wagen: eine Familie aus Gelterkinden, die ihre vor Urzeiten ins Engadin ausgewanderte Tochter besucht. Die Tochter, hier müssen wir nicht diskret sein, hat reich geheiratet und nützt diesen Reichtum nun, um den Unterländern den Kurzaufenthalt zu verschönern. Danke für den Champagner, liebe Frau aus Gelterkinden, und danke dem Engadin für alles. Du bist schön.
- Anzapfen: Spielte in unserem Fall nicht so eine grosse Rolle: Im Club Med war ständig Freibier. Wer es gern gediegen hat, dem sei das nur zu Fuss erreichbare Restaurant Lagrev in Isola empfohlen.
- Ausspannen: Auf der Kutsche durch das Rosegtal. Oder auf der atemberaubenden Zugfahrt von Chur nach St. Moritz.
- Ausgehen: Nicht nötig! Am Abend ruht man sich aus, ermattet von all der Wunderbarkeit.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.03.13