In dieser Rubrik stellt Rudolf Bussmann jede Woche Lyrik vor. Diese Woche beschäftigt er sich mit einem Gedicht des Deutschen Hans Magnus Enzensberger.
Bezahlt wird einer dafür,
dass er die Richtlinien der Politik bestimmt,
dass er schlachtet,
dass er Kierkegaard deutet,
dass er sich ins Bett legt,
dass er Tasten drückt,
dass er seinen Samen spendet,
dass er endlich weiterkommt bei der Lipotropin-Synthese,
dass er knüppelt, kocht, bügelt, Tore schiesst,
dass er endlich verschwindet.
Das Gedicht – sein Titel suggeriert es – hat etwas mit Ökonomie zu tun. Es enthält Bruchstücke aus einem Erwachsenenleben, die sich beim Lesen zu der Biografie eines Politikers, Wissenschaftlers, Geschäftsmanns zusammenfügen, eines ungeliebten, wie wir am Schluss bemerken. Man ist froh, wenn er geht oder abkratzt. Um ihm den Abgang zu versüssen, wirft man ihm eine Abfindung nach. Wir kennen den Herrn. Er hat sich in den 17 Jahren seit Erscheinen des Gedichts nicht verändert. Höchstens vermehrt.
Hans Magnus Enzensberger ist ein Lyriker, dessen Kritik in ihrer Stossrichtung keine Zweifel offenlässt, dessen Beobachtungen luzide und eingängig, dessen Gedichte in ihrer Form leicht zugänglich sind. Wir brauchen nicht lange zu forschen, um ihre Botschaft zu verstehen. Doch forschen wir etwas weiter, müssen wir uns auf Überraschungen gefasst machen. Die Aussage ist auf einmal nicht mehr so durchsichtig, wie wir sie gerne hätten.
Einer – wer ist das?
Dass jemand in seinem Leben knüppelt und schlachtet, als Philosoph und Hormonforscher tätig ist und zudem als Profifussballer sein Geld macht, ist wenig wahrscheinlich. Was wir vor uns haben, ist vielmehr ein Panorama männlichen Tuns in den verschiedensten Disziplinen, friedlichem genauso wie zerstörerischem. Männliches Tun? Unter den elf Beschäftigungen, die das Gedicht aufzählt, hat es einige, die auch von Frauen besorgt werden können. Dass sich jemand bezahlterweise ins Bett legt oder bügelt, gilt gemeinhin sogar als typisch weibliche Tätigkeit. Offenbar haben wir das Wort «einer» in der ersten Zeile geschlechtsneutral zu lesen: ein Mensch. Die Menschen. Nicht was ein Wirtschaftsboss im Verlauf seiner Karriere unternimmt, ist das Thema, sondern was die Menschen alles so tun, um zu Geld zu kommen.
Die Aufzählung gibt sich keine Mühe, einer bestimmten Logik oder einem System zu folgen. Knüppeln, kochen, bügeln, Tore schiessen – alles mischt sich willkürlich, genau wie in einer Stadt, einer Agglomeration. Oder in der Zeitung. Das Gedicht entstammt dem Band «Kiosk». Der Kiosk ist der Ort, wo das Durcheinander auf engem Raum zu greifen und zu lesen ist. Vor dem verwirrenden Angebot der Illustrierten, Zeitungen und DVDs muss jedes Ordnungsprinzip kapitulieren. Ähnlich misslingt die Suche nach einer bestimmten Ordnung auch in Enzensbergers Gedicht. Dieses zwingt uns eine Lesart auf, die der traditionellen Lektüre entgegenläuft. Statt mit einer sinnstiftenden Synthese wartet es mit einer zufälligen Anhäufung von Verben auf. Es bringt nicht zusammen, es separiert.
Hau ab!
Auch die Erwartung, dass die Aufzählung eine bestimmte Richtung hat und auf das Ende, letztlich den Tod zuhält, unterläuft das Gedicht. «Bezahlt wird einer, dass er endlich verschwindet», kann nicht den Tod meinen. Der Mensch wird für diesen in der Regel nicht bezahlt. Wohl aber für seinen Abgang dort, wo er im Verlauf seines Lebens nicht mehr erwünscht ist – im Unternehmen, das sich «gesund» schrumpft, im Büro, wo er gemobbt wird, nach der Scheidung, wenn Alimente geleistet werden. Oder wenn er ins Altersheim versenkt wird.
Das Gedicht wird dadurch umso zynischer. Seine Quintessenz geht dahin, dass der Einzelne, ob er schuftet, regiert, nützt oder schadet, in unserer Gesellschaft nebensächlich ist. Es ist ziemlich viel radikaler, als der Titel ahnen lässt. Was haben wir nur für eine miese Gesellschaft!, scheint es zu sagen: Was für eine Wirtschaft!
Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) hat seit 1957, als sein erster Gedichtband erschien, insgesamt ein Dutzend Lyrikbände publiziert. Die Lyrik ist in seinem immensen Schaffen als Prosaist, Essayist, Dramatiker, Übersetzer, Herausgeber und Kinderbuchautor ein wichtiger und konstanter Faktor geblieben. Zahlreiche seiner Gedichte stehen im Internet, werden von begeisterten Lesern kommentiert und diskutiert. «Kiosk» erschien 1995 im Suhrkamp Verlag.