Unser Wochengedicht stammt diesmal von der Berliner Dichterin Judith Zander. Sie lädt ein zu einer Reise – durch Zeit und durch Raum.
nach hause
es war einmal so spät wir gelangten
in eine zwischenzeit und der kontakt
brach ab in die pause des raumes
kam böhlen im bodennebel das schien
ein unerreichbar herrlich giftiger stern
wir liessen uns anziehn
durch shuttlefenster lugten wir auf
traute antwortsignale ein leuchten
in scheiben ein leuchten
befeuerte teerschwarze atmosphären
bestehend zu gleichen teilen aus
pvc neon und dederonschweiss
des aktivisten nachtschicht um nachtschicht
passierten wir unsere innenrauminstrumente
spielten verrückt ein zeitmesser zeigte
die neigung zur zahl einundachtzig
wir wuchsen kleiner und kleiner und kein
radarschirm verlangte nach uns.
Bevor man sich beim Lesen allzu sehr darauf verlässt, dass hier eine nächtliche Fahrt im Auto nach Böhlen oder an Böhlen vorbei «nach hause» geschildert wird, tut man gut daran, die ersten drei Worte nochmals zu lesen. Wir sind ohne es zu bemerken in ein Märchen eingetreten und in eine «zwischenzeit» gelangt, in der Zeit und Raum eines sind und wo der Raum eine «pause» einlegen kann. Fortan hat das, was im Gedicht geschieht, zwei Spuren, eine reale und eine märchenhafte. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, die eine von der andern zu isolieren und gesondert zu beschreiben. Sie ergeben nur zusammen gelesen ein Ganzes, eine Art Traumreise durch eine Gegend in Sachsen und zugleich eine Fahrt durch die Schwärze des Himmels. Der Einfachheit halber schlüpfen wir – die Lesenden – vorübergehend in das Wir, das im Gedicht das Wort führt. Bitte sich anzuschnallen.
Take off …
«böhlen im bodennebel» – bei diesen Worten haben wir noch sicheren Boden unter den Füssen, und der Ausdruck «giftiger stern» verheisst noch immer die Nähe der Stadt mit ihren Lichtern und dem Werk der Dow Chemical. Aber er führt davon auch schon weg. «stern» im Zusammenhang mit «shuttlefenster» katapultiert auf eine Umlaufbahn, die über die Stationen «antwortsignale», «atmosphären», «kleiner und kleiner» hinaus ins All führt.
… in die Vergangenheit …
Aber nur doch halb. Denn auf der Reise haben wir die Zeile «pvc neon und dederonschweiss» passiert, die uns vom Himmel herunterholt zu den Nachtschichten in einer Fabrik, die unverkennbar in der DDR liegt; dort wurden aus der Kunstfaser Dederon unter anderem Kittelschürzen hergestellt (das Kunstwort besteht aus «DDR» und «-on»). Wir sind in unserem Flug nicht weiter gekommen als bis in eine Werkhalle, deren «innenrauminstrumente» zu kontrollieren sind. Oder sind es etwa doch die Instrumente an Bord des Märchen-Shuttles? Das Gedicht schüttelt die Wirklichkeiten unsanft durcheinander.
Die Autofahrt, mit der wir ins Gedicht eintraten, war möglicherweise ein Umweg, den wir für das Verständnis gar nicht brauchen. Ist es nicht einleuchtender, von Anfang an die damaligen Sächsischen Olefinwerke vor Augen zu haben? Es ist Spätschicht, durch die Fenster ist die Stadt zu sehen der «giftige stern» mit seinen Verlockungen. Die Künstlichkeit der Umgebung gemahnt an eine Raumkapsel, die Messinstrumente neigen sich einem gefährlichen Limit zu und wir, die Mannschaft, sind machtlos, wir werden «kleiner und kleiner».
Oder ist das ganz anders zu sehen – wir selber sind es, die verrückt spielen, an den Instrumenten achtlos vorbeigehen und tun, als seien wir gar nicht da? Oder bleiben wir im Märchen, im Raumschiff? Der Schluss scheint nach dem Hin und Her des Gedichtverlaufs die Kurve zu kriegen, das «wir» entschwindet der Reichweite der Flugsicherungsradare (oder der politischen Überwachung?) und findet sich an einem Ort, wo niemand nach ihm sucht. Es ist ins Niemandsland entflogen.
… und am Damals vorbei
Kann es sein, dass ein Gedicht, das seine Bodenhaftung nie ganz verliert, auf einmal im Nichts landet? Womöglich war die erste Assoziation, die sich beim Lesen eingestellt hat, nicht ganz verfehlt, und wir sitzen im Auto, das an Böhlen vorbeifährt. Wir? Es könnte sich bei den Dahinfahrenden auch um eine Mutter mit ihrer neugeborenen Tochter handeln. Judith Zander ist im November 1980 geboren, der «zeitmesser zeigte die neigung zur zahl einundachtzig», sie kommt aus den Tiefen des Drüben und fährt an der Arbeitsstelle ihrer Mutter vorbei, die mitten aus der Schicht weggerufen wurde, weil ihre «innenrauminstrumente» die nahe Geburt anzeigten. Wie auch immer – am Schluss liegt die Stadt im Rücken und alle Beklemmung fällt weg. Nach den Irritationen, hervorgerufen durch Erinnerung, Fantasie und ein einmaliges Erlebnis, ist der Weg frei für eine sorglose Weiterfahrt, die, wie der Titel sagt, nach Hause führt.
Judith Zander studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte in Greifswald, danach am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie arbeitet als Übersetzerin. Nach dem Roman «Dinge, die wir heute sagten», der 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, veröffentlichte sie 2011 im Verlag dtv ihren ersten Gedichtband «oder tau». Daraus stammt das Gedicht.