Wochengedicht #35: Luc Bondy

Luc Bondy kennt unsereiner vor allem als Regisseur. Allerdings schreibt er auch und hat vor kurzem seinen ersten Gedichtband vorgelegt. Unser Wochengedicht widmet sich dem «Schlaf».   Im Schlaf Im Schlaf spielt er den Träumendenund sagt ins Kissen hinein:Ich liebe dich nicht mehr.Langsam richtet sie den halben Körper auf,richtet ihre Haare,gleitet aus dem Nachtgewand.Beim Anblick […]

Luc Bondy.

Luc Bondy kennt unsereiner vor allem als Regisseur. Allerdings schreibt er auch und hat vor kurzem seinen ersten Gedichtband vorgelegt. Unser Wochengedicht widmet sich dem «Schlaf».

 

Im Schlaf

Im Schlaf spielt er den Träumenden
und sagt ins Kissen hinein:
Ich liebe dich nicht mehr.
Langsam richtet sie den halben Körper auf,
richtet ihre Haare,
gleitet aus dem Nachtgewand.
Beim Anblick ihres weißen Rückens
wollte und konnte er nichts bereuen.
Sie schlüpft in ihre Schuhe,
steigt in ihr offenes Kleid,
zieht es hoch bis zum Bauch.
Sie schlüpft in einen Kaschmirpullover,
ihr Kopf taucht aus dem Kragen auf, den Blick auf die Zimmertür gerichtet.
Sie folgt ihrem Blick.
Er hört, wie sie den Mantel aus der Garderobe holt.
Sie öffnet die Tür.
Er hört sie die Treppen hinunterschreiten.
Er vernimmt ihre Schuhe auf dem Trottoir,
und sogar die Metro, die sie im Tunnel
lautlos wegführt.

Luc Bondy ist eigentlich ein Erzähler, der als Regisseur auf Europas Bühnen Geschichten zum Leben erweckt, und das ist in diesem Gedicht zu spüren. Es erzählt, wie eine Frau sich vom gemeinsamen Lager erhebt und den neben ihr Liegenden verlässt. Es könnte sich um eine Filmszene handeln: Einer tut so, als rede er im Traum, um seiner Frau etwas zu gestehen, was er ihr nie zu sagen traute. Sie soll glauben, seine Worte «Ich liebe dich nicht mehr» kämen nicht willentlich über seine Lippen, drängen vielmehr aus dem Unterbewussten herüber in die Welt der Rede und seien, da keiner verstandesmässigen Kontrolle unterworfen, von unanfechtbarer Wahrheit.

Ein Spiel von Traum und Schlaf

Soweit könnte man das Vorgefallene tatsächlich in ein Filmdrehbuch übersetzen – wäre das Gedicht nicht weit mehr als die blosse Wiedergabe einer Szene. Ein irritierender erster Satz ist ihm vorangestellt: «Im Schlaf spielt er den Träumenden». Was soll das heissen?

Der Titel bestätigt ausdrücklich, dass es sich um ein Geschehen «Im Schlaf» handelt. Was das Gedicht schildert – die Frau erhebt sich, kleidet sich an und verreist –, ist geträumt. Über den Traum hinaus gibt es keine Anhaltspunkte darüber, wie das Er und das Sie zueinander stehen. Kann sein, der Mann träumt seine langjährige Gattin, die jede Nacht neben ihm liegt, von sich weg. Kann sein, er holt eine frühere Liebesbeziehung in seinen Traum. Kann sein, er teilt das Bett mit einer Prostituierten, an der er nach dem Liebesakt sein Interesse verloren hat. Wer sagt im Übrigen, dass es sich um eine Frau handelt, die er kennt? Sie kann ebenso gut das Produkt seiner Fantasie oder eine symbolische Figur sein, die für etwas steht, das er nach dem Erwachen erst noch zu entschlüsseln hat. Kurz, die Dame ist von höchst zweifelhaftem Charakter, was ihren Realitätsgrad angeht.

Aber auch der Anlass selbst, der sie aus dem Bett treibt, weist mehr in die Richtung des Möglichen als des Wirklichen: Einer träumt, dass er im Traum absichtlich einen bestimmten Satz von sich gibt, den seine Mitschläferin sogleich begreift und daraus ihre Konsequenzen zieht. Welch ein kunstfertiger Träumer ist hier am Werk! Einer, den es, Hand aufs Herz, so nicht geben kann.

Kümmert uns das? Die suggestiven Bilder der sich ankleidenden Frau und die dramatische Wende, die das Geschehen nimmt, lassen uns vergessen, dass sich dieses im Bereich des Virtuellen bewegt. Wollte allerdings ein Regisseur die feinen Abstufungen der Virtualität wiedergeben, die darin mitschwingen, er hätte seine liebe Not. Wie zum Beispiel das Geräusch der Untergrundbahn abmischen, die der Mann «lautlos» wegfahren hört? Im Gedicht legt sich das Gespinst der Traumwelt auf den handfesten Stoff einer Trennung, mischt sich mit diesem, schafft mit ihm zusammen eine eigene Welt, vieldeutig wie es sie nur in der menschlichen Vorstellung gibt.

Luc Bondy, 1948 in Zürich geboren, ist ein gefeierter und vielfach ausgezeichneter Regisseur, der sich sowohl im Schauspiel als auch in Oper und Film einen Namen gemacht hat. Er wirkt heute vor allem auf den grossen Bühnen von Wien, Paris und Berlin. Seit 2001 ist er Leiter der Wiener Festwochen, seit diesem Jahr Direktor des Théâtre de l’Odéon. Nach zwei Prosabänden legte er vor zwei Monaten seinen ersten Lyrikband vor: «Toronto», erschienen im Verlag Zsolnay.

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