Wochengedicht #43: Wolfram Malte Fues

Unser Wochengedicht kommt heute von Wolfram Malte Fues. In seinem Gedicht begibt sich der im Baselbiet lebende Deutsche auf eine Beizentour quer durch Basel. «Frisco Bar» ich«Eintritt frei» werde «Drinksab 30 Franken» mitund neben Dir bald totund frisch renoviert und völligDu wie neueröffnet sein. Ich«Uf dr Lyss»habe meine ganze Zu-«m guldige Schluuch»noch vor mir, -kunftschlägt […]

Wochengedicht

Unser Wochengedicht kommt heute von Wolfram Malte Fues. In seinem Gedicht begibt sich der im Baselbiet lebende Deutsche auf eine Beizentour quer durch Basel.

«Frisco Bar» ich
«Eintritt frei» werde «Drinks
ab 30 Franken» mit
und neben Dir bald tot
und frisch renoviert und völlig
Du wie neu
eröffnet sein. Ich
«Uf dr Lyss»
habe meine ganze Zu-
«m guldige Schluuch»
noch vor mir, -kunft
schlägt «Peepshow» Haken ums Dreiländereck
und stept mir zuvor.

Ich versiegle uns die Augen
mit dem Messband, das Du
vorgeeicht hast. Wir
«Einzelkabine» machen
Minuten zu Stunden, Stunden
zu Tagen, Tage
zu Jahren, aus Jahren
ein neues Geschlecht
von Sekunden. Es springt
aus den Flohställen
aus den Läusestuben
aus den Nissenhütten
als wäre
das Glockenspiel unter die Zeiger gestürzt
aber sein Aufwand noch da.

Zwischen Augenlid und Augenbinde
treiben Du und ich «Logen»
die «für zwei» Ehe
des Herrn Mississippi hinab
bis zum Untergang
der Titanic im Whirl-pool. Übers
«Schiefe Eck»
mit den Fahrleitungsdrähten. Gleich
«Table dance» klappen
die Einsteigestufen
ab nach «Red Rose».

Ab gehts auf der Achterbahn rund «ums Dreiländereck», von Knille zu Bar zu Lokal. Die Namen und die einschlägigen Angebote, die unterwegs auftauchen und wieder verschwinden, addieren sich zu einer rasenden Fahrt durch die nächtlichen Strassen, gerade so als wäre der Steppenwolf in die Stadt zurückgekehrt, in der ihn Hermann Hesse vor über 80 Jahren durch die Halbwelt schickte. Das Gedicht setzt alles daran, die Eindeutigkeit dessen, was die Sinne gefangen nehmen will, zu unterlaufen. Die Bezüge sind aufgelöst, die Sätze durch Fetzen aus Leuchtreklamen unterbrochen, die Beschreibungen werden von freien Assoziationen durchkreuzt. Es gibt nur drei feste Anker in diesem haltlosen Treiben: ein Ich, ein Du und eine aufsässige Gegenwart, die keine Flucht in die Vergangenheit zulässt.

Doch wer ist das Du, das angesprochen wird? Die Geliebte, die für den Schreibenden das zuverlässige «Messband» bleibt, mit dem er die Tollheit zu vermessen vermag? Oder eine der strahlenden Liebschaften, die seine Augen blenden und den raschen Zerfall in sich tragen? Die Metapher vom Glockenspiel, das «unter die Zeiger gestürzt» ist, deutet auf letzteres hin. Möglich auch, dass das Du nicht immer dasselbe meint. In jeder Strophe taucht es im Zusammenhang mit einem anderen Lockvogelslogan auf, der Genuss verspricht, aber nicht zu ihm führt. Im «Red Rose» wartet das nächste Versprechen. Dass die Fahrt dort an ihr Ende kommt, ist nicht anzunehmen, zu abrupt ist der Schluss und zu sehr ähnelt er dem unsteten Zufallsgalopp, der zu all den übrigen Lokalitäten geführt hat.

Augenzwinkern

Der Ich-Schreiber lässt gleich zu Beginn durchblicken, dass seine nächtliche Tour nicht als zuverlässiger Bericht zu verstehen ist. Der zerstückelte erste Satz hebt alle Gemütlichkeit, die sich bei den Schlagworten Bar und Drinks einstellen will, vorsorglich auf. Das Ich kann ein Mann sein, der mit dem Du ein Tête-à-Tête hat, oder aber ein Lokal, das «frisch renoviert und neu eröffnet» ist, die Grenze zwischen Person und Ding ist sehr dünn angelegt. Es posiert in verschiedenen Rollen. Die eine davon ist die des Freiers, der – Stichwort «Einzelkabine» – «Minuten zu Stunden» macht, in einer anderen gerät er in die Nähe von Dürrenmatts Florestan Mississippi, Sohn einer Prostituierten und ehemaliger Bordellbesitzer. Das Ich lässt sich nicht wirklich festlegen, weder in dem, wer es ist, noch in dem, was es tut und was in ihm vorgeht. Es holt zum warnenden Vergleich mit dem Luxusdampfer Titanic aus, doch gibt es in der Fortsetzung – Untergang im Whirlpool – diesen Vergleich selber dem Gelächter preis. In seinem Gedicht hebt sich alles in ironischem Augenzwinkern auf und es ist zweifelhaft, wo der rasende Nachtlauf überhaupt stattfindet, ob in den Strassen der Stadt oder in einem erhitzten Gehirn «zwischen Augenlid und Augenbinde».

Wolfram Malte Fues

Der Lyriker und Essayist Wolfram Malte Fues, geboren 1944 in Bremen, wohnt in Duggingen (BL). Er promovierte in Germanistik, Philosophie, Geschichte und der Europäischen Volksliteratur an der Universität Zürich und habilitierte sich 1987 an der Universität Basel, wo er von 1995 bis 2010 als Extraordinarius für Neuere Deutsche Literatur und Medienwissenschaften tätig war. Er hat bisher vier Gedichtbände veröffentlicht. Sein Gedicht stammt aus «Vorbehaltfläche», Passagen Verlag 2007. Am 30. Januar liest er um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich aus seinem jüngsten Werk «dual digital».

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