Kein fröhliches Gedicht präsentieren wir an diesem trüben Montag. Jugenderinnerungen, Trauer und fehlender Trost durchziehen den «Schwarzen Mittwoch» des deutschen Lyrikers Durs Grünbein.
Schwarzer Mittwoch
Als du so traurig warst, sah ich zum erstenmal
Die leere Schulbank, das zerhackte Kinderbett im Rücken.
In deinen Augen schwimmend, sah ich erst, wie kahl
Uns jede Gegenwart umgab. Das Brüchige, die Lücken
Von Tag zu Tag, sie füllten sich und wurden kalte Grachten.
Weit weg wie Island lag, bereift, die frühe Wiese,
Durch die man barfuss ging und wusste nichts vom Schlachten.
Undenkbar, dass man Kuh und Schaf dem Fliessband überliesse,
Dass man sich schämen würde für den handgestrickten Schal.
Frivole Freuden kamen, doch es ging vielleicht die grösste.
Das alte Lied – Schuhsohlen werden in der Sonne hart.
Man läuft herum, verliert sich, spürt den Mangel überall.
An diesem schwarzen Mittwoch, heimwärts auf der Fahrt,
Als du todtraurig warst, ich konnte dich nicht trösten.
Jemand blickt in seine Jugendzeit zurück. Auslöser dazu sind die Augen seines Gegenübers, in die er eintaucht wie in einen Brunnen, auf dessen Grund eine vollkommen andere Welt liegt, eine Welt «weit weg wie Island». In wenigen Strichen ist diese umrissen: ein bäuerliches, durch kindliche Ahnungslosigkeit geschütztes Dasein, eine Armut, die nicht als solche empfunden wird. Welcher Art die grosse («vielleicht die grösste») Freude war, welche die Jugendzeit durchströmte und deren er verlustig gegangen ist, führt der Erzähler nicht aus. Der Hinweis auf die Schuhsohlen, die ihre ursprüngliche Qualität einzubüssen pflegen, deutet aber darauf hin, dass sie sich mit Eigenschaften wie Frische, Munterkeit, natürliche Beweglichkeit paarte.
Die Gegenwart erscheint im hellen Schein der Erinnerung umso glanzloser, sie ist geprägt durch «kalte Grachten», durch «Mangel überall». Der Verlust scheint an diesem schwarzen Mittwoch besonders tief empfunden zu werden. Vieles deutet darauf hin, dass die beiden Reisenden von einem Abschied, vielleicht einer Beerdigung kommen. Sie befinden sich auf der Rückfahrt, die tränenfeuchten Augen des angeredeten Du gelten wohl einem verstorbenen Menschen, in dem die damalige Zeit noch wach geblieben war. Mit seinem Dahinscheiden ist ein Stück Vergangenheit weggebrochen. Der Erzähler muss erkennen, dass die Zeit der Jugend vorbei und der Glanz, der diese umgab, endgültig verloren ist. Er ist nicht in der Lage Trost zu spenden, zumindest nicht an diesem Tag.
Das Gedicht als Leidkarte
Im Schreiben hat er einen Weg gefunden mit seiner Trauer fertig zu werden, indem er ein Gedicht verfasste, das formal abzubilden sucht, was ihn beschäftigt. Das Gedicht ist gleichsam aufgebaut wie eine Leidkarte. Aussen der schwarze Rand, zwei Zeilen stark, die je das Wort traurig und den Ausdruck «schwarzer Mittwoch» enthalten, drei weitere Zeilen schliessen sich gegen innen an, die dem Seufzen über die Gegenwart Ausdruck geben. Die vier Zeilen in der Mitte sind der Beschreibung des Damals vorbehalten. Das Glück oder die Freude, die in diesem aufgehoben ist, steckt wie ein Schmuckstück in dem von Grau und Schwarz geprägten Rahmen. Das Gedicht ist als Sonett gearbeitet, mit einem ausgeklügelten Reimschema und regelmässig jambischen Zeilen. Es ist in der Art eines kunstvollen Schreins konzipiert, der die Erinnerung an die verlorene Jugend als Kleinod umschliesst, und sie so vor dem endgültigen Verlust rettet.