Nadja Küchenmeister kommt aus Berlin, und so dringt die Berliner Luft auch aus «echo I». Doch beinhaltet unser heutiges Wochengedicht auch tatsächlich biografische Züge?
postkarten. telefongespräche. so holt sie
sich die fremde wieder rein. die jeans
jacke. das farmerhemd. die regengüsse
in seattle. worauf die väterliche rede kam
ist nach den tagesthemen kaum noch zu
benennen: damals, solche worte nimmt sie
nur verschliffen wahr, wenn überhaupt. sie ist
auf die geschichte jetzt nicht eingestellt, doch
durch den hörer glüht das müde echo babels
berg am griebnitzsee: doktorarbeit. forscher
drang. die platten kommen ausm westen, klasse
frauen von der defa. das lässt die runde kochen
bis zum abend, wo man am fenster rauchend
beieinander steht, regengüssen über potsdam
lauschend, allein die kinder schluchzen
Eine Tochter telefoniert mit ihrem Vater. Soviel ist gesetzt in diesem Gedicht. Die Tochter schaut daraufhin die Tagesthemen, die einen Teil des Gesprächs in Vergessenheit geraten lassen. Was ihr geblieben ist, versucht sie nachträglich zusammenzutragen. Der Vater hat von früher erzählt, von seiner Doktorarbeit, die ihn zu DDR-Zeiten in den Studiokomplex der staatlichen Filmgesellschaft DEFA im Potsdamer Stadtteil Babelsberg führten. Dort gab es Schallplatten aus dem Westen und interessante Leute, man unterhielt sich angeregt über den Feierabend hinaus. Der Satz «allein die kinder schluchzen» dürfte kaum Teil von Vaters Erinnerung sein, vielmehr ein Nachsatz der Tochter, die damals zu den Kindern gehörte, die, in der Wohnung zurückgelassen, auf die Eltern warteten.
Was seither geschah, bleibt offen. Ist der Vater nach den USA ausgewandert? Ist er bloss ferienhalber in Seattle? Der Kontakt findet per Postkarten und Telefonanrufe statt. War auch die Tochter in den USA, holt sie sich während des Gesprächs «die fremde wieder rein»? Oder spielt dieser Satz auf die Entfremdung zwischen den beiden Sprechenden an? Sie scheint ihrem Vater eher widerwillig zuzuhören, der Ausdruck «das müde echo babels/berg» könnte sich darauf beziehen, dass die väterlichen Erzählungen sie langweilen.
Mag sein, die Biografie der Autorin würde hier weiterhelfen, indem sie die angedeuteten Fakten genauer verorten könnte. Freilich würde sie dadurch das Verständnis des Gedichts auf den individuellen Fall verengen. Ohne exaktes Hintergrundswissen bleiben die fünf Strophen in der Deutung offen, erzählen eine Geschichte losgelöst von autobiographischem Deutungszwang, eine Geschichte, die von der Vergangenheit, von Distanz und Getrenntsein handelt. Sie behalten ein Geheimnis und überlassen es den Lesenden, ihre entsprechenden Erfahrungen mit ins Spiel zu bringen.