Pfingsten steht vor der Tür, und der St. Galler Lyriker Ivo Ledergerber liefert uns ein Wochengedicht dazu.
In Zungen reden
wenn aus dem Mund Wörter schlüpfen
die ich noch nie gebraucht
Sätze die ich noch nie gesagt
wenn ich mich selbst
nicht verstehe
und trotzdem
hineinwerfe
die ganze Kraft
den ganzen Mut die ganze Wut
die gesamte Liebe alle
und
alles
in
Lob
und Fluch
laut wird
vielzungig
als wär ich viele
ein ganzer Chor.
Was «in Zungen reden» in der biblischen Apostelgeschichte genau meint, ist umstritten. Es wird zum einen als unverständliches Sprechen ausgelegt, zum andern als ein Reden in verschiedenen Sprachen. In beiden Fällen ist aber ein Reden gemeint, das einen direkten Zugang zu Gott eröffnet, sei es im Gestammel des individuellen Gebets, sei es dadurch, dass auch jene Leute Gottes Wort vernehmen, die es bisher nicht verstehen konnten.
Ivo Ledergerber gebraucht das Bild der Zungenrede in weltlichem Sinn, als eine Form des Sprechens, das nicht der Kontrolle des rationalen Denkens unterliegt und keine Rücksicht auf Logik und sprachliche Richtigkeit nimmt. Es ist eine Methode der Selbsterfahrung im weitesten Sinn. Dem Sprechenden ist selber nicht verständlich, was er äussert, aber es löst ihm die Zunge, bringt die Emotionen und Lebenskräfte ins Fliessen. Das Erleben endet in der Ahnung, dass hier «ein ganzer Chor» zum Einsatz gekommen ist, dass im Zungenreden die Vielstimmigkeit des sprechenden Ichs hörbar wurde. Das Individuum erfährt sich als Zusammenklang unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Tonarten und Töne.
Das Gedicht führt das Reden in Zungen nicht vor, es spricht darüber, so wie es auch die Apostel nicht vorführen, sondern berichtend erwähnen. Während sich Lukas und Paulus auf ein Geschehen beziehen, das stattgefunden hat («sie redeten in Zungen und weissagten» Apg 19,6), bleibt im Gedicht offen, ob es sich um eine erprobte Praxis oder um einen Wunsch handelt, den es noch zu erfüllen gäbe. Die Erinnerung oder die Sehnsucht lassen das Ich so in Eifer geraten, dass es einen Moment nach Worten suchen muss und sein Redefluss ins Stocken gerät, bevor es sich wieder auffängt und die Aufzählung zu Ende führt. Fast so, als hätte der Einfall, ein Pfingstgedicht zu schreiben, einen kurzen Einfall des Pfingstgeistes nach sich gezogen.