Im Nahen Osten schwindet die Zahl der Christen. Nur eine Minderheit flieht vor religiöser Verfolgung. Stärker treiben der Zusammenbruch staatlicher Strukturen und die wirtschaftliche Trostlosigkeit den Exodus an.
Die jüngsten Meldungen stammen aus der Woche nach Ostern. Am 7. April fand in der Markuskathedrale in Kairo, dem Sitz des Oberhauptes der koptischen Kirche und Aufbewahrungsort der Reliquien des Evangelis-ten Markus, eine Trauerfeier für vier getötete Christen statt. Sie kamen tags zuvor bei Ausschreitungen mit muslimischen Jugendlichen ums Leben, weil sie ein Kreuz auf eine Moschee gemalt haben sollen. Während der Begräbnisfeier kam es erneut zu Unruhen zwischen Christen und Muslimen, 29 Menschen wurden verletzt, eine Person, auch ein Christ, starb.
Ägyptische Panzer gegen Kopten
Die Gewaltakte sind die jüngsten einer düsteren Reihe. Am Neujahrstag 2011 starben bei einem Bombenanschlag auf eine Neujahrskirche in Alexandria 21 Anhänger der koptischen Kirche. Am 7. Mai desselben Jahres griffen Salafisten die Kirche St. Mina in Kairo an. Und am 9. Oktober beendete das ägyptische Militär gewaltsam eine Demonstration von Kopten, indem es mit Panzern in die Menschenmenge fuhr. 24 Menschen starben bei den schwersten Ausschreitungen seit dem Sturz des früheren Präsidenten Mubarak.
Vor zwei Wochen kritisierte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International scharf den mangelhaften Schutz der koptischen Christen durch Polizei und Justiz vor Diskriminierung und gewalttätigen Übergriffen. «Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi muss deutliche Massnahmen gegen religiös motiverte Gewalt ergreifen und sicherstellen, dass Übergriffe untersucht und die Täter vor Gericht gestellt werden», sagte Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Amnesty-Leiterin für Nahost und Nordafrika.
Immerhin hat Mursi, Vertreter der Muslimbruderschaft, nach den aktuellsten Übergriffen in einem Telefongespräch mit Patriarch Tawadros II., dem Oberhaupt der koptischen Kirche, öffentlich seine Solidarität mit den ägyptischen Christen bekundet: Ein Angriff auf die Markuskathedrale sei wie ein Angriff auf ihn persönlich.
Die koptische Kirche ist nicht die einzige der alten, autochthonen Kirchen des Orients, die Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt ist. Ihre Zahl schwindet – vor allem dort, wo ehemals starre Regimes zerfallen sind.
Flucht aus den Ländern der Bibel
Im Irak lebten vor dem Sturz Saddam Husseins über eine Millionen Christen, zehn Jahre später sind rund 300 000 geblieben. In Syrien sind die christlichen Viertel von Damaskus, Homs und Aleppo aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs bis auf wenige Tausend entvölkert. Und in Ägypten ist die Zahl der Kopten, rund zehn Prozent der Bevölkerung, nach dem Ende des Mubarak-Regimes und dem Wahlsieg der Muslimbruderschaft zwar relativ konstant geblieben, ihre Religionsfreiheit ist indes faktisch beschnitten. Die Christen verschwinden aus den Ländern der Bibel, lautet die alarmierende Prognose.
Gefahr durch militante Gruppen
Experten bestätigen das. Heiner Bielefeldt, Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrates, sagt: «Dort, wo der politische Islam radikalisiert auftritt, hat sich die Situation für Christen drastisch verschlechtert.» Man müsse allerdings differenzieren: «Im Irak ist die Situation unübersichtlich. Die religiösen Minderheiten werden nicht vom Staat, sondern von militanten Gruppen diskriminiert und verfolgt.»
In Ägypten hat der radikale Islam zwar die Macht errungen. Aber im grossen, gemässigten Teil der Bevölkerung sei tief verankert, dass das koptische Erbe zur Geschichte des Landes gehöre, sagt Bielefeldt. In Jordanien bestehe nach wie vor ein «Selbstverständnis der staatlichen Organe, einen Ausgleich mit der christlichen Minderheit zu suchen, und im westjordanischen Teil der Palästinensergebiete belegen Christen politische Ämter». Völlig unzutreffend ist die Prognose vom Verschwinden der Christen zudem für den Libanon, wo noch immer rund ein Drittel der Bevölkerung christlich ist und Regierungsmitglieder stellt.
Unübersichtliche Situationen
Wie viele Christen tatsächlich wegen ihrem Glauben verfolgt werden, weiss niemand, sagt Thomas Schirrmacher, Religionssoziologe und Leiter des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit. «De facto kann man das nicht zählen. Die Bevölkerungszahlen sind gerade in Krisenzeiten jeweils nur Momentaufnahmen. In Syrien sind die Christen aus den umkämpften Städten verschwunden, aber ob das nach Kriegsende so bleiben wird, ist noch nicht absehbar. Im Irak ist die christliche Bevölkerung zwar massiv geschrumpft, aber auch das lässt sich aufgrund der grossen Binnenflucht innerhalb des Landes nicht quantifizieren.»
International tätige christliche Hilfswerke teilen diese Position. «Mit Zahlen gehen wir zurückhaltend um», sagt Linus Pfister von der Arbeitsgemeinschaft Religionsgemeinschaft der Evangelischen Allianz. «Aus unserem eigenen Projektnetzwerk in 37 Ländern weltweit hatten wir in den letzten Monaten ein Dutzend Todesfälle zu verzeichnen, wo die Täter wahrscheinlich aus Hass auf alles Christliche agierten.» Über ihre Partnerorganisationen, in der Regel lokal ansässige Kirchgemeinden, vermittelt die Arbeitsgemeinschaft Rechtshilfe vor Ort, beispielsweise für das per Verfassung garantierte Recht auf Konversion in Ägypten. «Solche vor Gericht erfahrungsgemäss nur schwer durchsetzbaren Fälle bestätigen den subjektiven Eindruck, dass religiöse Minderheiten nicht denselben Rechtsschutz genies-sen. Das hat sich in den letzten Jahren sicher verstärkt.»
Die ägyptische Regierung gibt die Zahl der Christen zu tief an.
Eine Folge davon ist die Auswanderung. Aber auch diese Beobachtung äussert Pfister mit Vorsicht. «Von unseren koptischen Partnern wissen wir, dass die ägyptische Regierung die Zahl der christlichen Bevölkerung auf einem tiefen Niveau kommuniziert, um Subventionsansprüche und weitere soziale Spannungen zu vermeiden.» Kaum verfügbar seien zudem Angaben zur christlichen Zuwanderung.
Das bestätigt Odilo Noti vom Hilfswerk Caritas. «Die eng geführte These vom christlichen Exodus übersieht die christliche Einwanderung. Im Bereich der Haushaltshilfe und der Kinderbetreuung hat in den vergangenen Jahren eine starke Arbeitsmigration von Christen aus dem Fernen Osten und dem subsaharischen Afrika in muslimische Länder stattgefunden.»
Traditionelle Abwanderung
In den Ländern des Nahen Ostens mit einer jahrtausendealten christlichen Tradition können sie ihre Religion zwar ausüben. Christliche Abwanderung findet aber seit Jahrzehnten statt – «auch aus Systemen, die stabil autoritär, jedoch nicht von einer antichristlichen Ausrichtung geprägt waren.» Dazu zählt Noti Jordanien, Syrien vor dem Bürgerkrieg, Husseins Irak oder das Westjordanland unter israelischer Kontrolle.
Diese Abwanderungswellen haben wirtschaftliche und sozialpolitische Gründe: «Christen verfügen im Vergleich zu Muslimen über bessere Karten, um der wirtschaftlichen und politischen Perspektivenlosigkeit zu entrinnen – weil sie überdurchschnittlich gut ausgebildet und weltweit vernetzt sind», sagt Mark Farha, der an der Georgetown University im katarischen Doha moderne Geschichte des Nahen Ostens lehrt. «Christliche Missionare errichteten im 19. Jahrhundert einige der ersten modernen Schulen in der Region. Die besuchten zu Beginn natürlich nur Christen. Allerdings hat dieser Effekt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren.»
Für erhellender hält Farha hingegen eine andere geschichtliche Erfahrung: Wenn in multireligiösen Ländern das stabilisierende System zusammenbrach, stiegen die Auswanderungszahlen deutlich an. «Der Kollaps des Osmanischen Reiches hatte den Völkermord an den armenischen und syrischen Christen und eine Massenflucht zur Folge. Während des libanesischen Bürgerkriegs, nach dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak sowie gegenwärtig in Syrien sind dieselben Folgen zu beobachten.»
Diese historischen Beispiele zeigen, dass die Situation der Christen sich vor allem in Umbruchperioden verschlechterte. Das sieht auch Farha, der selbst Christ ist, so. «In Katar, wo ich wohne, dürfen Christen Kirchen bauen, ausserdem gibt es eine jesuitische Universität.» Somit könne auch ein Staat, in dem der Islam Staatsreligion und Quelle der Rechtssprechung sei, die Religionsfreiheit gewähren. «Die entfaltet sich allerdings erst, wenn die wirtschaftlichen Strukturen gesichert sind und kein Bedrohungsgefühl vorherrscht.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.05.13